Ein Pamphlet für Berlin: Komm mal runter, Westdeutschland!
Westdeutschland kümmert sich jetzt mal ganz schnell um sich selbst, und Neukölln bleibt Neukölln. In der aktuellen Debatte um die angeblich so verrottete Hauptstadt ein subjektiver Vorschlag zur Güte.
Mein Westdeutschland beginnt immer kurz hinter Nürnberg. Ich sitze mit drei Kindern im Zug von Berlin nach München, zwei Buben, ein Mädchen - zum Glück trägt es kein Kopftuch. Aber das ist jetzt polemisch. Die Leute sind ja sehr nett. Nur fühle ich mich plötzlich so besonders. Und natürlich wissen die Menschen hier gar nicht, dass in Berlin Ferien sind. Ich werde behandelt wie ein rohes Ei, ein offensichtlich beschädigtes, beschäftigungsloses Ei. Denn wieso säße sonst ich, ein weißer, super aussehender und gepflegt gekleideter Mann in den besten Jahren, mit drei nicht unanstrengenden Kindern im Zug anstatt an meinem Arbeitsplatz? Wo ist das Muttertier, ist die Frage, die im ICE-Gang steht. Ich träume von einem T-Shirt mit der Aufschrift: "Die Assi-Mutter dieser Gören hat sich totgesoffen und gehurt." Aber erstens ist das zu lang, zweitens trage ich keine T-Shirts mit Aufdruck und drittens - wie soll ich sagen: Muss die Gegenwart denn tatsächlich immer der Vergangenheit entgegenkommen? Ich meine: Ich komme aus Berlin-Neukölln, der spannendsten Gegend, die dieses Land zu bieten hat. Ich bin nicht der Pfarrer oder Psychotherapeut von Altdeutschen, die mit dem modernen Leben nicht Schritt halten können.
In der Münchner U-Bahn ist dann alles verschärft. Hier regiert der Lodenrentner. Die Kinder kriegen mal hier, mal dort einen Regenschirm ins Gesicht gesteckt, eine Hofpfisterei-Tüte zwischen die Beine geschlagen, einfach so und kommentarlos. Wenn überhaupt eine Regung in den vernagelten Gesichtern auszumachen ist, dann diese: Was machen Kinder, noch dazu fremde, noch dazu mit Koffern, in unserer U-Bahn? Warum leben sie nicht im Bayerischen Wald, wo sie schmutzen können, wie sie wollen? Mehr militante Kinderhasser als im Millionendorf gibt es wohl nirgends auf der Welt - und die wenigsten von ihnen tragen Baseballkappen.
Nach einer Woche auf Heimatbesuch bin ich völlig erledigt. Nicht nur, dass es hier für alles rigide Regeln zu geben scheint - die Regeln sind auch noch dumm. Ich will nur wieder heim, heim nach Neukölln. Denn nicht auf den Bergen liegt die Freiheit, wie das alte bayerische Volkslied behauptet, sondern dort, wo Ratten hausen und Schmeißfliegen um Müllhaufen schwirren; wo der FAZ-Kommentator nur mit entsicherter Waffe sich durchzukämpfen traute; wo ich meine Zigarette auf den Boden werfe, den Sperrmüll vor die Tür stelle, wo ich die breiten Trottoirs in völlige Dunkelheit gehüllt mit meinen Kindern entlangradle. Welch tiefer Frieden herrscht hier, welche Leichtigkeit des Seins, welch Freiheit!
Ich muss sagen: Genauso wollte ich immer leben, in einer bis zur Gleichgültigkeit toleranten, allen provinziellen Mief gnadenlos zermalmenden Metropole, wo Männer tagsüber versonnen auf dem Spielplatz abhängen, während ihre spitzenmäßig ausgebildeten Frauen sich in Kanzlei oder Redaktion selbst verwirklichen. Wahrscheinlich bin ich auf dem islamistischen Auge blind, bin ein vergnügungssüchtiger (allein die unmittelbare Nachbarschaft bietet mehr als ganz Stuttgart) Neobürger der Generation Golf - aber wo bitte soll ich hier ein Neukölln ein Problem haben? Was sollte mir hier Angst machen? Der tapfere Niederbayer Dominik Brunner wurde in München totgeschlagen, die Umstehenden verließen sich auf das berüchtigte harte Hinlangen der bayerischen Polizei. Aber wie weiter, wenn die Schandis zu spät kommen? Wenn man - was man in Berlins Innenstadt- und Szenebezirken dann doch lernt - die Augen offen halten muss, die Situationen antizipieren? Dass die Münchner Bürger ihre Hände in den Taschen ließen - das ist verständlich. Aber wo waren ihre Augen? Wo war ihr Herz?
Wahrscheinlich bei Thilo Sarrazin. Meine Mutter fragt mich am Mobiltelefon nach ihm, als ich vorbei an mit schwerer Zunge berlinernden Alkoholkranken eine von Bauspekulanten ruinierte Straße in Kreuzberg entlanghüpfe (Peter Fox: "Überall liegt Scheiße, man muss eigentlich schweben"), um meine Kinder aus Hort und Kita abzuholen.
Sarrazin, der mit dem Golfclub, sage ich, der Verprasser öffentlichen Eigentums? Aber so mag ich mit meiner Mutter gar nicht sprechen. Also sage ich, dass ich nicht weiß, wovon Sarrazin redet, den einzigen heiligen Krieg, den die armen Alkis, an denen ich gerade vorbeigelaufen bin, führen, ist ein Krieg gegen sich selbst.
Aber meine Kinder, sagt da meine Mutter, die den Bogen raushat, die würden doch auf eine Privatschule gehen, weil die Schulen da, wo ich wohne … weil es da doch nicht ginge. Es geht da nicht, sage ich, weil der Stadt und dem Staat und dem Wähler und dem Steuerzahler die öffentlichen Schulen wurscht sind. Das Problem dieser Schulen ist nicht der Ausländeranteil, sondern ihre Hässlichkeit. Jedes Golfplatzklohäusl ist heimeliger.
Ob das jetzt die Wahrheit ist, was ich da sage? Oder bin ich ein rosagrüner Heuchler, ein Sozialromantiker? Weil ich mir eine Schule und eine Kita für meine Kinder ausgesucht habe, die mir gefällt? Und die ich mir leisten kann, die sich jeder leisten kann, weil, wer kein Schulgeld zahlen kann, sich eben anders, mit seinem Kopf und seinen Händen, einbringt - und das ohne spitzelnde Bedarfsprüfung? Soll ich das Geld lieber in einen SUV investieren (aber den müsste ich dann ja gleich selber wieder anzünden …)?
Bei Geld fällt mir ein: Als ich Student war, schickte mir mein Vater mal eine alte Simplicissimus-Karikatur. Der schneidig uniformierte Postbote bringt da dem Großbauern einen Brief und fragt grinsend: "Könnt Ihr denn überhaupt lesen, was Euer Sohn, der Student, Euch schreibt?" - "Nein", antwortet der Großbauer milde lächelnd, "wir schicken ihm halt ein Geld, wenn er schreibt."
Wäre das nicht, liebe Westdeutsche, ein nachahmenswerter Umgang mit Berlin, das ihr doch so gern und bevorzugt in sich im ICE schon hemmungslos warmsaufenden Großgruppen besucht? Von dessen Glamour, Nie-nicht-schlafen, Kreativität und Gefährlichkeit ihr dann zu Hause mit glänzenden Augen erzählt (die Firma hat alles bezahlt) - natürlich immer mit dem Zusatz, dass ihr hier bei uns auf keinen Fall (Nachtigall, ick hör dir trapsen) leben möchtet?
Wir hier in Berlin wollen ja nicht viel von euch. Wir wollen vor allem keine Verkehrsberuhigung, keine Fußgängerzonen und keine Nichtraucherkneipen. Wir wollen keinen Sarrazin. Wir wollen einfach so leben, wie wir es uns ausgesucht haben. Und wenn eure Kinder nach 18 Jahren westdeutscher Kleinfamilienhölle zu uns kommen, weil sie Abstand - zentrales Wort für Berlin - von euch, eurem Gewehrschrank und eurem Winnenden-Denken brauchen, dann werden wir ihren anfänglich übertriebenen Wahnsinn nonchalant tolerieren, wie es die Berliner vor uns einst mit uns getan haben.
Wäre das kein Angebot, Westdeutschland?
Oder wollt ihr wirklich wie einst zu Weimarer Zeiten einfach nicht aufhören, auf Berlin als undeutsches, international verseuchtes, verjudetes und vernegertes Babylon einzudreschen? Wollt ihr eurem inneren kleinen Nazi wirklich so lange Leine lassen? Ich fände das schon deswegen schade, weil man als westdeutscher Wahlberliner die bayrische, badische oder hessische Provinz besonders liebt - wenigstens einmal im Jahr wollen wir schließlich ein gutes, deutsches Brot essen, ohne uns auf den letzten Geheimtipp verlassen zu müssen. Ja, der Berliner aller Schichten und Altersklassen ist der Provinz sehr wohlgesinnt, das wollte ich auch einmal gesagt haben (er darf ja dann auch wieder weg).
Das wars eigentlich. Nur eins vielleicht noch. Ich bin jeder Militanz immer ferngestanden, manchmal bewundernd, meistens sehr skeptisch bürgerlich. Ich bin einfach durch und durch Zivilist. Aber wenn dieses aggressive Gemosere gegen Berlin nicht bald aufhört, dann werde ich Gegenmaßnahmen ergreifen. Ich werde Dinge tun, die mir tief in meinem Herzen widerstreben: Ich werde Fan von Hertha BSC werden. Ich werde eure dummen Fragen, wo denn hier die Oranienstraße ist, wo ihr euch auf ebenselbiger gerade schon befindet, nicht mehr geduldig beantworten. Ich werde nicht mehr empathisch reagieren, wenn ihr mir zum tausendsten Mal erzählt, dass der Döner bei euch im Dörfchen doppelt so teuer ist und halb so gut schmeckt. Ich werde, kurz gesagt, genauso hysterisch, uninspiriert und vor lauter unerfüllten Sehnsüchten vergehen wie ihr. Wollt ihr das wirklich? Na dann: Tragen wirs aus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen