Neukölln gegen Rechts: Nachbarn sollen helfen
In Neukölln kommt es immer häufiger zu Anschlägen von Rechten. Jetzt mobilisieren betroffene Einrichtungen die Anwohner.
Faustgroß klafft ein Loch in der Mitte des Schaufensters. Weiter rechts klebt von innen ein Plakat an der Scheibe. Was darauf geschrieben steht, ist schwer zu erkennen. Braunes Klebeband, mit dem das Loch und die von ihm ausgehenden Risse im Glas provisorisch abgedichtet wurden, behindern den Durchblick. Doch das magentafarbene Plakat kennt man, es trägt den Titel "13.02.2010. Dresden. Kein Naziaufmarsch".
Bereits zweimal musste in den vergangenen Monaten die Frontscheibe des unscheinbaren Vereinslokals der Freundschaftsgesellschaft Salvador Allende in der Neuköllner Jonasstraße ausgetauscht werden. Unbekannte hatten sie nachts eingeworfen. Wie bei zahlreichen weiteren Anschlägen auf Einrichtungen linker Organisationen im Norden des Bezirks geht die Polizei von einem rechtsradikalen Hintergrund aus. Neben den Chile-Freunden treffen sich die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend, die Antifa und Bezirksgruppen der Kommunistischen Partei sowie der Linkspartei in dem kleinen Tagungsraum im Erdgeschoss. Nachdem das Schaufenster Ende Januar zum dritten Mal zerstört worden ist, zahlt die Versicherung nicht mehr ohne Weiteres. "Jetzt müssen wir erst einen Rollladen zum Schutz anbringen", erklärt ein Sprecher des Chile-Vereins.
Zu seinen Füßen stapeln sich Rundbriefe in einem Karton. Auf einem beidseitig bedruckten DIN-A4-Blatt ist das Porträt des einstigen chilenischen Präsidenten Salvador Allende zu sehen. Im Text daneben werden die Anwohner des Körnerkiezes auf Deutsch und Türkisch gewarnt: "Die Neonazis wollen die soziale Not rassistisch aufheizen. Sie wollen die Organisationen, welche Widerstand gegen Hartz IV, gegen Arbeitslosigkeit und gegen die Kriegspolitik leisten, einschüchtern." Nachdem ein Protestmarsch der Antifa mit über 1.000 Teilnehmern im Januar weitere rechte Anschläge in Neukölln nicht verhindert hat und die Polizei mit ihren Ermittlungen offenbar nicht recht vorankommt, werden nun die Kiezbewohner mobilisiert. Sie sollen wachsam sein und Verdächtiges sofort der Polizei melden, bitten der Chile-Verein und andere Nutzer des Büros in dem Brief.
Von der Jonasstraße im Körnerkiez ist es ein viertelstündiger Fußmarsch zur Geschäftsstelle der Neuköllner Grünen in der Berthelsdorfer Straße. Auch hier haben Rechtsextremisten in letzter Zeit mehrfach Ärger gemacht. "Wir sind hier in einer unglaublich ruhigen Wohngegend. Da tun sich die Täter natürlich leicht", sagt Anja Kofbinger. Über ihrem Schreibtisch hängt ein Wahlplakat mit einer Mülltonne, in die ein Hakenkreuz versenkt wird. Dreimal mussten Kofbinger und ihre KollegInnen in jüngster Zeit Nazi-Graffitisprüche wie "Dresden 1945 unvergessen" vom Rollladen des Parteibüros beseitigen. Noch ärgerlicher und vor allem einige hundert Euro teurer waren die Folgen eines Anschlags, bei dem jemand mit Flüssigkleber die Schließanlage für den Rollladen des Büros zerstört hatte.
Kofbinger lacht und scherzt viel. Selbst der Gedanke an den Morgen mit dem kaputten Rolladen ringt der lesben- und frauenpolitischen Sprecherin der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus ein kurzes Schmunzeln ab: "Da stand ich erst mal blöd vor der Tür und konnte nicht rein." Doch bei allem Humor ist Kofbinger beunruhigt bei der Vorstellung, dass Rechtsradikale mit vermehrten politischen Anschlägen derzeit offenbar ihren Aktionsradius vom Stadtrand in Richtung Nordneukölln auszudehnen scheinen. "Früher gab es immer nur das Häuflein Rechter, das da hinten an der Pommes-Bude stand und sich besoffen hat", sagt Kofbinger und deutet Richtung Karl-Marx-Straße. Ihre Heiterkeit ist wie weggewischt, als sie feststellt: "Die Anschläge der letzten Monate sind eine ganz neue Dimension. Für kleinere Einrichtungen wie den Chile-Verein oder die Galerie Olga Benario hier um die Ecke sind sie existenzbedrohend." Ob die Anschläge auf eine verbesserte Vernetzung der Rechtsradikalen in Neukölln schließen lassen, sei angesichts der stockenden Ermittlungen der Polizei noch völlig unklar. "Vielleicht geht das Ganze auch nur von zwei, drei hoch motivierten Neonazis aus, die neu in der Gegend sind."
Gegenüber von Kofbinger sitzt Henrike Ortmann. Sie ist dabei, für den Bezirksvorstand der Grünen einen Brief an die Nachbarn aufzusetzen. "Wir wollen nicht, dass die Rechten, die wir im Süden Neuköllns immer weiter zurückdrängen konnten, nun im Norden ihr Unwesen treiben", heißt es in dem Schreiben an die Anwohner der Berthelsdorfer Straße. Wie in dem im Körnerkiez verteilten Rundbrief wird aufgerufen, die Augen offenzuhalten. Außerdem laden die Grünen zu einem "Erfahrungsaustausch" in ihr Büro ein, um weitere Schritte gegen die rechten Umtriebe im Kiez zu besprechen.
Spricht man sie darauf an, ob dem Aufruf an die Nachbarn demnächst Überwachungskameras folgen werden, lacht Kofbinger wieder. "Also bitte, nicht mit uns. Kameras kann man leichter austricksen als wachsame Nachbarn."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Ärzteschaft in Deutschland
Die Götter in Weiß und ihre Lobby
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid