Silent Disco: Tanzende Maulwürfe
In der Silent Disco hat jeder seinen eigenen Kopfhörer. Wer dort tanzt, entwickelt ein besonderes Gespür für die Umgebung. Erzeugt das mehr Austausch?
Laura und Fernanda kommen rein und bleiben irritiert stehen. Ihnen bietet sich ein Bild, das man sich vorstellen kann wie einen Garten voller Maulwurfshügel. Auf jedem Hügel thront ein einsamer Maulwurf. Blind und glücklich. Der Garten ist in Wirklichkeit eine Tanzfläche, die Einzelnen sind nicht blind, aber sie tragen Kopfhörer und hören so ganz für sich. Laura und Fernanda schauen ihnen beim Tanzen zu, die Bewegungen haben unterschiedliche Rhythmen. Ein bekloppte deutsche Sitte, vermuten die beiden jungen Frauen aus Mexiko. Wo sind wir denn hier gelandet?
Im Berliner Soda Club. Der veranstaltet eine Silent Disco. Die Tanzenden nehmen sich am Eingang einen Drathloskopfhörer und wählen zwischen zwei Kanälen aus, auf dem einen läuft Hiphop, auf dem anderen Elektro. Vorne legen zwei DJs auf. Die Idee der Kopfhörerparty wird hier schon seit November umgesetzt, auch in Hamburg werden welche veranstaltet. Akustisch abgeschottet und dennoch in einem gemeinsamen Raum - wie kommt man hier zusammen?
Laura und Fernanda setzen sich Kopfhörer auf und legen los. Mit Lust, aber auch mit Belustigung. Laura tanzt Hiphop, Fernanda Elektro. "Vielleicht wechselst du lieber zu meinem Kanal?" Demonstrativ macht die eine die andere auf den eigenen Stil aufmerksam. Erfolglos. Dann tanzen sie ihrer Wege. Mit Körperbewegungen fragt Laura eine andere Tänzergruppe, ob sie auch in ihrem Kanal sind. "Ihr auch, ihr auch?" Ja, sie auch. Endlich, hier will sie bleiben. "Normalerweise bemerke ich andere Menschen im Nachtclub gar nicht, aber hier mache ich mir bewusst, was sie tun. Man lernt was über Körpersprache."
Dann erschließt sich den beiden die Unterwelt. Denn Maulwürfe graben ein Netz von Verbindungen. Die da drüben, die auf der anderen Ecke, die sind auch in Lauras Rhythmus. Beim Refrain merken sie das. Sie lächeln sich zu. Vibrations durchtunneln den Raum. Oben an der Luft, das heißt ohne Musikanschluss, stehen noch viele ahnungslos da und schauen verwirrt zu. Was sie hören, ist ein bisschen absonderlich. Ab und zu übersteigt das Mitsingen aus verschiedenen Ecken den Gesprächspegel. Selten in passender Tonhöhe. Auch ein paar Tänzer nehmen die Hörer ab und horchen. Klingt eher halbstark und brüchig. Also, Kopfhörer wieder auf, weitertanzen.
Einige begeben sich auf einen Solotrip, ganz in der eigenen Welt versunken, die Augen auf unendlich. Das Sehvermögen avanciert zum wichtigsten Sinnesorgan. Ob man richtig tanze und was die anderen über einen denken? "Einfach nicht hinsehen", ruft ein Elektrotänzer. Die eigene Norm rückt ins Zentrum. Aber ist das Auge jetzt die Hauptwahrnehmung? Was nämlich paradox ist: Die Intuition nimmt auch zu. Kevin, der Elektro-DJ, bekommt Besuch von Tänzern, die ihn für seine Musik loben. "Woher wissen die Leute denn, dass ich der DJ bin, der das auflegt?"
35 Millionen MP3-Player
Damit man bei der Rückkehr in die Realität des Ortes nicht kalt aufschlägt, legt ein dritter DJ eine chillige Musik auf, die gedämpft aus Lautsprechern dringt. Von seinem Podest aus schaut er den Tanzenden zu. Von außen. "Die reden nicht mehr miteinander", sagt er. Musik, die direkt ins Gehör fließe, wirke anders, der Tanz wird intensiver. Für ihn: schöner anzuschauen.
35 Millionen tragbare MP3-Player sind in Deutschland inzwischen verkauft worden, da gehören die Ohrdeckel mittlerweile zum Accessoire wie das Handtäschchen und die Manschettenknöpfe. Längst stehen die Eltern nicht mehr im Kinderzimmer, kassieren den Walkman ein und jagen die Kids zum Sport. Im Soda Club ist Disko zur Fortsetzung des Kinderzimmers mit anderen Mitteln geworden. Das heimische Abschweifen wird zum Tunnelkontakt-Event.
Gerd Speer von Leise-Disko aus Hamburg hat viel vor. Als Eventmanager setzt er auf Kopfhörerpartys. In England und Australien haben diese Ereignisse mehr Zulauf. An spanischen Stränden tanzen Touristen seit Jahren aus Lärmschutzgründen mit Kopfhörern, erst recht auf den Goa-Partys in Indien, wo ab 22 Uhr Ruhe angesagt ist. Sechs Kopfhörerpartys plant Speer für 2011. Während er nachmittags über die Reeperbahn läuft, ärgert er sich über die Ruhe. "Hier zum Beispiel, auf diesem Platz, könnte man wunderbar Kopfhörer verteilen. Was glauben Sie, was das an Menschenmassen anziehen würde!" Anstatt Autismus zu fördern, hätte die neue Lauscherkultur schon zu neuen Kommunikationsregeln geführt: "Ich kann mich jeder Zeit entscheiden, ob ich tanzen oder reden will. Den Kopfhörer auf den Schultern, heißt: ,Ich möchte dir etwas sagen'. Beide Hände am aufgesetzten Kopfhörer heißt: ,Lass mich in Ruhe'. Und ein abgenommener Kopfhörer in der Hand heißt: ,Komm, wir gehen einen trinken.'"
Auch Kullen Bronst glaubt an den Erfolg seiner Kopfhörervermietung. Demnächst will er in Elmshorn die Fußgängerzone blockieren. "Alle Passanten kriegen einen Kopfhörer. Den müssen sie nehmen, sonst kommen sie an uns nicht vorbei. Am anderen Ende des Durchgangs sammeln wir sie wieder ein." Es sei typisch deutsch, dass viele mit Skepsis reagieren, aber am Ende begeistert seien. "Und warten Sie mal, wenn der Kopfhörer Einzug ins Kino erhält. Dann brauchen mich die anderen nicht mehr zu stören, wenn sie ihre Chipstüten aufmachen und an anderen Stellen lachen als ich. Über die beiden Kanäle könnte ich sogar zwischen deutscher und Originalfassung wählen."
Der Münchner DJ Mirko Hecktor, Autor des Buchs "Mjunik Disco" und Diskohistoriker mit drei Jahrzehnten Auflegeerfahrung, sieht die Entwicklung deutlich gelassener. Angefangen habe es mit einem legendären Kunstprojekt 2003 in Rotterdam. 2004/05 gab es eine euphorische Phase, die aber längst verebbt sei. "Was will ich denn in einem Club normalerweise? - Kontakte pflegen!" Der Türsteher sei ein Filter, durch den eine kleine Gesellschaft erschaffen wird, eine Art Subraum. "Sobald ich den aber passiert habe, ist alles möglich, alles kann passieren, alle sind ein Wir. Netzwerke werden im Club nicht nur über Gesagtes aufgebaut, sondern über das Anschauen von Körpern, Satzfetzen, wie man zueinander steht, über Danebenbenehmen." Somit böten die Kopfhörerpartys nichts prinzipiell Neues. "Ich weiß nicht, was es bringen soll, wenn man nach dem Türsteher noch einen zweiten Subraum einführt, quasi einen Subsubraum, über den unterschiedliche Tanzkulturen zueinanderfinden sollen. Mir kommt das etwas verkopft vor." Früher sei in den Clubs ein Wir-Gefühl über Grenzen hinweg entstanden. Da seien die Rocker bei Technomusik einen trinken gegangen und umgekehrt. Seit den Neunzigern werde es in den Clubs homogener. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass man mit Kopfhörern den Austausch neu kreieren kann."
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Der Alkoholpegel ist angestiegen im Berliner Soda Club. Laura und Fernanda tanzen wieder unter sich. Die beiden haben sich jetzt für denselben Kanal entschieden. Auf die Dauer fehlt ihnen die akustische Brücke zu ihrer Umgebung. Die zwei schreien sich an, auch ohne Kopfhörer, denn es ist laut geworden zwischen den kahlen Wänden und den vielen Stimmen. Auf dem Weg nach draußen durchschreiten sie noch schnell den Nachbardancefloor. Hier läuft eine normale, laute Disko, so wie man sie sich vorstellt: feuchtfröhlich, unkeusch und eng. Der Boden bebt, die Vibrationen dringen in den Magen. "Was für ein Unterschied!", sagt Laura.
In der Silent Disco kommt die Musik nur durch den Kopf. Und auf der Tanzfläche bewegt sich nicht eine Masse. Dort tanzen Einzelgrüppchen und Solisten. Glückliche Maulwürfe.
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