piwik no script img

Archiv-Artikel

Angst vor dem Pöbel

BÖSE, BÖSE In „Kein Entkommen“ (20.15, ZDF) erscheint Gewalt als soziale Frage. Der Berliner Opferbeauftragte Roland Weber findet’s gut

Die Tragödie, die hier gezeigt wird, hat eine glasklare Ursache: die Vermischung der sozialen Schichten

VON LEA STREISAND

Eine Frau wird abends an einer Bushaltestelle von drei Jugendlichen überfallen und brutal zusammengeschlagen. Einfach so. Das Opfer, Anna (Anja Kling), kommt knapp mit dem Leben davon. Zwei der Täter werden zu relativ geringen Jugendstrafen verurteilt, der jüngste bekommt lediglich Sozialstunden aufgebrummt.

Anna hadert. Vor Gericht hat sie nämlich behauptet, sie würde sich an nichts erinnern. Nun will sie die Sache selbst in die Hand nehmen.

„Kein Entkommen“ erzählt die Geschichte einer Traumatisierten, die mit aller Macht versucht, die Kontrolle über ihr Leben zurückzubekommen, was dazu führt, dass alles um sie herum außer Kontrolle gerät.

„Kein Entkommen“ erzählt auch, dass Gewalt eine soziale Frage ist. Anna lebte vorher in der glücklichsten aller möglichen Welten: liebender Mann, zwei entzückende Kinder, die eigene Firma läuft gut. Das Haus am Waldrand, in dem die Familie wohnt, hat drei Badezimmer. Die Täter dagegen hausen in Sozialwohnungen. Es ist eng, dreckig, es gibt keine Liebe, Gewalt ist an der Tagesordnung.

„Wir hatten Sorge, dass uns das zum Vorwurf gemacht wird“, sagt Regisseur Andreas Senn bei der Pressekonferenz, „aber nur, um dem auszuweichen, wollten wir nicht sagen: Okay, der Täter ist ein Architektensohn ausm Nebenhaus. In der Regel ist es halt so, dass die Täter aus einem anderen sozialen Milieu kommen als die Opfer. Niemand hier sagt, dass Leute mit weniger Geld gefährlicher sind.“

Roland Weber, Opferbeauftragter des Landes Berlin, sieht das anders: „Der klassische jugendliche Intensivtäter kommt nahezu immer aus einem Milieu, wo er keine Liebe erlebt. Dazu kommen oft Schulabstinenz und psychische Probleme der Eltern.“ Außerdem fänden solche Gewalttaten in der Regel immer innerhalb des Milieus statt. „Gewalttäter sind nicht mobil“, sagt er. Trotzdem komme es immer wieder zu solcherart Zufallsbegegnungen, wie sie hier gezeigt werden.

Weber lobt dennoch die realistische Darstellung im Film. Als Sabine Dreher vom ZDF ihm beipflichten will, soziale Schwäche hätte ja nicht unbedingt was mit ökonomischen Mängeln zu tun, auch in wohlhabenden Häusern finde Gewalt statt, lenkt Weber ein: Jugendliche aus wohlhabenden Familien neigten eher zu autoaggressivem Verhalten, Drogenmissbrauch und frühzeitiger Alkoholabhängigkeit.

Hauptdarstellerin Anja Kling ist der Meinung, es sei schlicht darum gegangen, „zu erzählen, dass so ein Erlebnis eine Familie, auch wenn sie sehr glücklich ist, in ihren Grundfesten erschüttert“. Das ist dem Film auch gelungen. Dank der eindrucksvollen Darstellung von Anja Kling, die das ausführliche Interview mit der taz leider zurückgezogen hat, erleben wir mit, wie Anna immer mehr Boden unter den Füßen verliert, wie sie versucht, ihre Souveränität zurückzugewinnen. Wie ihr Scham-Schuld-Komplex sie in die Mangel nimmt, wie sie versucht, die Angst zu verdrängen, wie sie dadurch immer weiter in die Spirale aus Verdrängung und Retraumatisierung hineingerät. Wir sehen die Hilflosigkeit des Ehemanns (Benno Fürmannn), die Wut des Sohns (Matti Schmidt-Schaller), das Mitleid der besten Freundin (Stefanie Stappenbeck). Anna driftet zusehends ab. Sie ist nicht in der Lage, um Hilfe zu bitten. Auch darin ist der Film realistisch, so Weber.

Das Problem ist und bleibt das, was Rima Schmidt, die Produzentin, als „dramaturgische Zuspitzung“ bezeichnet. Die Gegenüberstellung von „lieb, lieb“ und „böse, böse“. „Wir wollten einfach nicht die Ausnahme zeigen“, verteidigt die Produzentin diese Erzählweise, „Wir haben aber im Verlauf des Films gezeigt, dass genauso gut der Junge aus dem behüteten Elternhaus straffällig werden kann.“

Die Tragödie, die hier gezeigt wird, hat eine glasklare Ursache: die Vermischung der sozialen Schichten. Betrachtet man diesen Film auf allegorischer Ebene, zeigt er nichts anderes als die Angst des Bürgertums vor dem Pöbel.

Gegen Ende des Films hat sich der pubertierende Sohn in die Freundin des Täters verliebt, Chatname „Pinky-Bitch98“. Anna hat das Mädchen aufgetan in der Hoffnung, den Täter mit ihrer Aussage doch noch ins Gefängnis zu bringen.

Chrissi, so heißt das Mädchen, verführt Annas Sohn, das Jüngelchen aus gutem Hause, innerhalb weniger Stunden zum Klauen, Saufen, Rauchen und dazu, dass er die gute Fee in seinem Konsolenspiel plattmacht. Einfach so. Ihretwegen wagt er sich sogar in die apokalyptisch anmutende Vorhölle der Marzahner Gettodisko, wo die Jugendlichen nur noch mit Fausthieben kommunizieren. Die Situation eskaliert, das Fass läuft über.

Aber ganz am Ende sitzt die heile Familie gemeinsam in ihrem lichtdurchfluteten Haus am Frühstückstisch. Angegriffen zwar, verwundet, aber vollzählig. Die Welt ist wieder in Ordnung.