IG-Metallchef über Wirtschaftskrise: "Uns hat man den Krieg erklärt"
IG-Metall-Chef Berthold Huber über die fehlende Aufarbeitung der Wirtschaftskrise, die Macht der Konsumenten und seine Idee einer sozialen marktwirtschaftlichen Demokratie.
taz: Herr Huber, am 1. Mai, am Tag der Arbeit, gehen Gewerkschafter traditionell auf die Straße. Ist das nicht ein überholtes Ritual?
Berthold Huber: An diesem Tag zu demonstrieren ist unverändert wichtig. Es ist ein Tag für die Würde der Arbeit, für die Würde der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Sie sind nicht nur dafür da, Produkte in die Welt zu setzen, sondern müssen auch als gleichberechtigte Menschen akzeptiert werden.
Das ist doch eine Selbstverständlichkeit.
Job: Berthold Huber führt als Erster Vorsitzender die IG Metall. Er wurde am 15. Februar 1950 in Ulm geboren.
Ausbildung: Huber lernte Werkzeugmacher und war bei der Firma Kässbohrer in Ulm tätig. Dort war er bis 1984 Betriebsratschef. Dann studierte er Geschichte, Philosophie und Politik, schloss aber sein Studium nicht ab.
Gewerkschaftskarriere: 1990 trat Huber in den hauptberuflichen Dienst der IG Metall, wo er sich um den Aufbau der Gewerkschaft im Osten kümmerte. 1998 wurde er Bezirksleiter in Baden-Württemberg. Nach fünf Jahren kehrte er in die Frankfurter Gewerkschaftszentrale zurück und wurde zum Zweiten Vorsitzenden der IG Metall gewählt. Vorausgegangen war eine heftige gewerkschaftsinterne Auseinandersetzung, an deren Ende der IG-Metall-Chef Klaus Zwickel zurücktrat und Jürgen Peters Erster Vorsitzender wurde. Im November 2007 löste ihn Huber an der Gewerkschaftsspitze ab.
Buch: In seinem Mitte April erschienenen Buch "Kurswechsel für Deutschland. Die Lehren aus der Krise" beschreiben Huber und andere ihre Vorstellungen einer sozialen und nachhaltigen Wirtschaft.
Leider nicht. Es fehlt in der Gesellschaft an Anerkennung und Respekt für diejenigen, die den gesellschaftlichen Reichtum schaffen. Ohne Arbeit gibt es keinen Wohlstand - diese Wahrheit bleibt, auch wenn sich heute Arbeit vielfältiger darstellt als vor 40 Jahren. Und auch wenn wir vor großen strukturellen Änderungen durch die Krise stehen.
Hat die deutsche Gesellschaft die richtigen Lehren aus der Krise gezogen?
Nicht im Geringsten. Bisher fehlt eine fundierte Analyse dieser Krise, die nicht nur eine einfache Konjunkturkrise ist, sondern eine tiefe Strukturkrise. Der marktradikale Kapitalismus hat eine Führungsschicht hervorgebracht, die durch Gier nach höchsten Renditen und Verantwortungslosigkeit gekennzeichnet ist. Spaltung und sozialer Zerfall der Gesellschaft sind die Folgen. Wir brauchen eine schonungslose Aufarbeitung, wie es zu diesem Desaster kommen konnte. Notwendig ist ein echter Kurswechsel, sonst ist die nächste Krise vorprogrammiert.
Sie fordern eine Wahrheitskommission zur Krisenaufarbeitung. Wie soll die aussehen?
Es gibt doch Akteure, die das System aus Spekulation und Rücksichtslosigkeit organisiert haben und damit diese Krise heraufbeschworen haben. In den USA gibt es eine Debatte im Senat und in der Öffentlichkeit, etwa über die Rolle der Banken. In Deutschland hingegen fehlt diese Kultur der offenen Aufarbeitung. Bei uns werden die Banken geschont. Niemand will für das Desaster verantwortlich gewesen sein.
Herr Ackermann soll also öffentlich verhört werden?
Ich will niemanden verurteilen oder bildlich gesprochen an den Galgen bringen. Aber eines muss doch klar sein: Bestimmte Dinge darf es in Zukunft nicht mehr geben - und dies erfordert eine Benennung der Verantwortlichen und der Fehler im Denken und Handeln.
Waren vor allem überzogene Renditeerwartungen die Ursache der Krise?
Ja, das ist einer der wichtigsten Gründe. Wir sind mit horrenden Renditeforderungen konfrontiert worden, zum Beispiel im Maschinenbau, wo jeder weiß, dass zweistellige Renditen unrealistisch sind.
Was sind andere Gründe?
Spätestens ab 1990, mit dem Ende der Ost-West-Teilung, ist der weitgehende Konsens in Politik und Gesellschaft, dass es den Leuten einigermaßen gut gehen soll, gebrochen worden. An dessen Stelle ist die Gier nach unbegrenzter Profitmaximierung getreten. Es hat sich das Dogma durchgesetzt, die Wirtschaft bliebe am besten sich selbst überlassen. Der Staat hat sich immer weiter zurückgezogen. Immer mehr öffentliche Bereiche sind der Renditelogik unterworfen worden. Parteien und Politik haben versagt, weil sie nicht gegengesteuert haben.
Haben auch die Gewerkschaften versagt?
Auch die Gewerkschaften haben die Gefahren nicht gleich erkannt, benannt und sich zunächst auch nicht eindeutig und selbstbewusst genug positioniert. Und das, obwohl man den Gewerkschaften den Krieg erklärt hat.
Krieg? Ist das nicht übertrieben?
Chefs großer Wirtschaftsverbände haben öffentlich darüber gejubelt, dass Unternehmen aus den Arbeitgeberverbänden austreten und damit tarifflüchtig werden. Marktradikale Akteure haben das deutsche System der sozialen Marktwirtschaft in Frage gestellt.
Sie fordern jetzt eine "geistig-moralische Wende" hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft. Wie soll das gehen?
Ich maße mir nicht an, auf alle Fragen eine Antwort zu haben. Aber man muss doch eine Vorstellung von der Zukunft der Gesellschaft entwickeln.
Welche haben Sie?
Zum Beispiel die: Es geht nie ohne die Beteiligung der Menschen. Die alte Form der Ökonomie, dass jemand bestimmt, etwa der Vorstand, und die anderen dann die Befehle zu befolgen haben, wird nicht mehr funktionieren. Es braucht eine neue Form der Mitsprache und Mitbestimmung. Deswegen brauchen wir eine Erweiterung der Mitbestimmungsregeln.
Reicht das?
Wir müssen auch das Aktienrecht reformieren. Bislang sind Vorstand und Aufsichtsrat der großen Aktiengesellschaften lediglich verpflichtet, im Sinne der Aktionäre zu handeln. Sie müssen sich aber den Beschäftigten und dem Allgemeinwohl gegenüber verantworten. Die Aktionäre leben schließlich auch von der Gesellschaft.
Der Staat hat seine teuren Konjunkturpakete kaum mit Auflagen an die Industrie verknüpft. Ist die Chance, Strukturelles zu ändern, nicht längst vertan?
Bildhaft gesprochen: Wer auf dem letzten dünnen Ast in der Krone eines morschen Baumes sitzt und wieder herunterwill, für den ist Springen keine gute Idee. Ihm bleibt nur, wieder zurückzuklettern. Ein grundlegender Kurswechsel braucht Zeit. Ich bin überzeugt davon, dass sich Unternehmen umorientieren müssen, zum Beispiel in der Automobilindustrie. Sie kann nicht weitermachen wie bisher, wir brauchen neue, ressourcenschonende Mobilitätskonzepte.
Muss der Staat die Preise für den Naturverbrauch erhöhen, damit alle sparsamer mit den Ressourcen umgehen?
Das kann man nicht einfach so machen. Aber wir müssen Monopole verhindern. Nehmen wir die Stahlindustrie: Es kann doch nicht sein, dass weltweit nur drei Konzerne Zugriff auf Eisenerz haben - und dass solche wichtigen Rohstoffe Spekulationsobjekte an den Börsen werden. Da brauchen wir eine staatliche Regulierung, national und international.
Die Regierung plant eine Sonderabgabe für Banken. Ein gelungenes Beispiel für staatliche Regulierung?
Diese Bankenabgabe soll etwas mehr als 1 Milliarde Euro pro Jahr bringen. Wir haben aber schon mindestens 147 Milliarden Euro öffentliches Geld direkt und indirekt für die Sicherung des Finanzmarktes in die Hand genommen - also brauchen wir 147 Jahre bis zum Ausgleich. Das ist doch Wahnsinn! Im Übrigen gibt es unter den G-20-Staaten dazu nur blumige Worte, aber keine Taten.
Wenn der Staat versagt, können es die Verbraucher dann über einen bewussteren Konsum richten?
Die Einkaufsentscheidungen von Privatpersonen allein reichen nicht. Viele können sich den Kauf ökologischer und fairer Produkte ja gar nicht leisten. Aber natürlich, es gibt auch eine persönliche Verantwortung.
Einkaufen bei Schlecker ist also verboten?
Sie spitzen das auf Namen zu. Ich sage: Wenn ich anständige Verhältnisse für mich haben will, muss ich mich persönlich auch anständig verhalten, auch wenn es etwas teurer ist. Am Ende des Tages geht es ja nicht nur darum, was man hat, sondern auch, wie man sich fühlt und ob man guten Gewissens in den Spiegel schauen kann.
Selbst in der Biobranche fehlen allerdings oft faire Arbeitsbedingungen. Müssen die Gewerkschaften das Thema Konsumenten offensiver erklären?
Ja, das müssen sie. In meinen Augen ist das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert der Unsicherheit und Instabilität, deshalb müssen Gewerkschaften für stabile Verhältnisse kämpfen. Ich fordere: Die neoliberale Marktwirtschaft muss durch eine soziale marktwirtschaftliche Demokratie ersetzt werden. Im Unterschied beispielsweise zur Linkspartei ist nicht die Eigentumsfrage entscheidend, sondern die Frage der Mitbestimmung und umfassende Mitsprache. Das heißt aber auch: Die Gewerkschaften müssen sich viel mehr als bisher den Fragen zuwenden: Wie und was wird produziert? Und wie wird konsumiert?
Wie müssen sich Firmen in der Metall- und Elektrobranche umstellen?
Ein Beispiel: In Deutschland gibt es drei große Druckmaschinenhersteller, die auf dem Weltmarkt führend sind. Seit langem ändert sich das Kommunikationsverhalten der Menschen, sie lesen weniger Bücher und Zeitungen und mehr Texte online. Diese Industrie wird es also schwer haben, obwohl die Beschäftigten Spezialisten und hervorragend ausgebildet sind. Wir müssen den Strukturwandel sozial gestalten und für flexible Übergänge auf dem Arbeitsmarkt sorgen.
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