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Debatte ÖkonomieDer Fetisch Wachstum

Kommentar von Steffen Lange

Es ist fatal: Die Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler setzt auf Wachstum als Schlüsselbegriff. Tatsächlich blockiert das aber die Politik.

Wachstum ist das Gleiche wie Entwicklung“. Professor Karl-Heinz Paqué fasst in einem Satz zusammen, woran die Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ seit geraumer Zeit verzweifelt: an der Unbelehrbarkeit einiger Wirtschaftsprofessoren. Sie vereiteln dadurch eine der wenigen Gelegenheiten, die gegenwärtigen Krisen aus einer langfristigen Perspektive heraus zu betrachten.

Zahlungsunfähige Banken, europäische Staatsschulden, zunehmende Einkommensungleichheit und – fast vergessen – die fortschreitende Umweltzerstörung: die Politik wird von der schnellen Folge der Ereignisse getrieben. Sehr zu begrüßen war da die Einberufung einer Enquetekommission, in der einmal mit Abstand auf die Ausrichtung unserer Wirtschaft geblickt werden kann.

Oder könnte. Denn die Kommission hat inzwischen die Hälfte ihrer Zeit hinter sich, und es sieht nicht besonders gut aus. Die Berichte der Untergruppen verzögern sich; eine Gruppe hat sich grundsätzlich zerstritten. Zugegeben: Die Aufgabenstellung der Kommission ist nicht einfach. In fünf Arbeitsgruppen wird untersucht, welche Rolle Wachstum in unserem Wirtschaftssystem spielt und wie die Wirtschaft in Zukunft gerechter und ökologischer gestaltet werden kann. Eine Mammutaufgabe. Die Ergebnisse müssen dann auch noch alle Parteien im Konsens beschließen.

Diskussion verweigert

Der Autor

Steffen Lange promovierte in Volkswirtschaftslehre und arbeitet beim Konzeptwerk Neue Ökonomie. Er publiziert regelmäßig Artikel zur Arbeit der Enquetekommission auf enquetewatch.de.

Es sind aber nicht vorrangig die Abgeordneten der Parteien, die sich nicht einigen können, sondern einige Wirtschaftsprofessoren, die sich auf bestimmte Fragen partout nicht einlassen möchten. Der entscheidende Punkt ist, wie man auf die niedrigen Wachstumsraten der letzten Jahre und Jahrzehnte reagieren sollte. Es sind sich alle einig, dass die Wachstumsraten in Zukunft – wie in der jüngeren Vergangenheit – tendenziell niedrig sein werden. Während der Großteil der Mitglieder diese Frage bearbeiten möchte, beharren jedoch einige darauf, dass eine Steigerung des Wachstums das primäre Ziel der zukünftigen Wirtschaftspolitik sein sollte.

Professor Paqué ist Wortführer dieser zweiten Gruppe. Seiner Meinung nach brauche die Wirtschaft hohes Wachstum, um Schulden bedienen zu können, Sozialsysteme zu finanzieren und international wettbewerbsfähig zu bleiben. Daher solle die Politik versuchen, durch die richtigen Maßnahmen „noch ein bisschen mehr rauszuholen“.

Die Mehrheit der Kommissionsmitglieder legt den Schwerpunkt hingegen auf die Frage, wie unsere Gesellschaft angepasst werden kann, um mit niedrigen Wachstumsraten gut zu funktionieren. Diese Frage ist Teil des Arbeitsauftrags der Kommission. Dabei geht es um eine Vielzahl gesellschaftlicher Bereiche, angefangen bei den öffentlichen Schulden und den Sozialsystemen bis hin zu Strategien zum Umgang mit Arbeitslosigkeit.

Ziemlich unterbelichtet bleibt eine dritte Position: eine grundsätzliche Kritik an weiterem Wachstum in den reichen Industrienationen, sei es wegen des Klimawandels oder weil weiterer materieller Reichtum nicht den menschlichen Bedürfnissen entspricht.

Unabhängig davon, welche Meinung man vertritt, eine Offenheit für verschiedene Konzepte ist intellektuell sinnvoll und politisch notwendig. Prof. Paqué und andere Wirtschaftswissenschaftler weigern sich jedoch, Lösungsansätze verschiedener Couleur zu denken. Die tieferen Gründe hierfür sind in der Konstitution der Wirtschaftswissenschaften zu finden.

Konsum statt Glück

Erstens beschränken sich fast alle grundlegenden volkswirtschaftlichen Theorien und Modelle auf die materiellen Aspekte des Lebens. Nutzen (oder Glück) wird am Konsum von Gütern gemessen und nicht an Arbeitsbedingungen, der Qualität der Umwelt oder dem sozialen Zusammenhalt. Diese Faktoren sind kaum in das ökonomische Denkmuster integrierbar. Zentrale Argumente der WachstumskritikerInnen verhallen deswegen ungehört.

Zweitens sind volkswirtschaftliche Theorien verhältnismäßig homogen. Die einflussreichen Theorien weisen alle sehr ähnliche Argumentationsmuster auf. Wachstum wird durch Humankapital und Forschung bestimmt. Andere Faktoren wie die Verfügbarkeit von Ressourcen oder eine Sättigung der Nachfrage spielen kaum eine Rolle. Theorien, die geringere Wachstumsraten prognostizieren, werden nicht ernst genommen, weil sie nicht in das herrschende Theoriegerüst passen.

Finanzen umlenken

Wie kann dieses Problem angegangen werden? Optimal wäre es, wenn Ökonomen selbst außerhalb ihrer üblichen „Box“ denken und sich neuen Herangehensweisen öffnen würden. Hoffnungsvolle Ansätze in dieser Richtung kommen von kritischen Studierendengruppen, die gängige Dogmen hinterfragen und nach „Real World Economics“ verlangen. Im März forderte eine Reihe engagierter ProfessorInnen im „Memorandum besorgter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler“ einen Wandel der Ökonomik.

Um die Wissenschaft nachhaltig zu verändern, bedarf es allerdings einer verstärkten Intervention von außen, da sonst die derzeitigen ProfessorInnen ähnlich denkende NachwuchswissenschaftlerInnen rekrutieren. Einen wirklichen Unterschied kann nur eine Umlenkung finanzieller Mittel auf die Erforschung neuer Methoden und Ideen machen. Nur so können kritische Perspektiven langfristig erarbeitet und von der Politik aufgegriffen werden.

Neben Medien und Wissenschaft haben Lobbygruppen einen großen Einfluss auf die Politik. Hier bedarf es einer Zunahme alternativer Stimmen (Thinktanks, Bürgerinitiativen, NGOs etc.), die den traditionellen Lobbygruppen etwas entgegenstellen können.

Diese Maßnahmen brauchen Zeit und kommen für die Arbeit der Enquetekommission zu spät. Sie sind aber wohl noch wichtiger als die kurzfristigen Ergebnisse der Kommission, deren Abschlussbericht in einem Jahr abgeheftet wird und deren Mitglieder sich einer anderen Kommission zuwenden werden.

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8 Kommentare

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  • A
    ab.er

    Die Diskussion über die Rolle des wirtschaftlichen Wachstums ist in meinen Augen überfällig. Allerdings habe ich derzeit das Gefühl, dass das Wirtschaftswachstum nicht etwas ist, dass wir aufgrund des freien Willens in der klaren Abwägung von Alternativen anstreben. Ich sehe es eher so, dass die aktuellen Rahmenbedingungen ein Wirtschaftswachstum zwingend voraussetzen, damit es zu keinen existenzbedrohenden Krisen kommt.

     

    Und da wird es für mich kritisch. Was ist denn, wenn sich weiteres Wachstum aus unserer Umwelt, aus den vorhandenen Resourcen einfach nicht mehr herauskitzeln lässt? Die 2008er Wirtschaftskrise war doch schon ein Vorbote davon, wo uns der hohe Ölpreis ganz deutlich die Beschränkheit der Verfügbarkeit von Öl klar gemacht hat.

     

    Wir brauchen ganz dringend jetzt Schritte in eine wachstumsfreie Zukunft. Und da ist mir ausreichend Nahrung für alle deutlich wichtiger als das neue Smartphone alle zwei Jahre, ein warmes Bett hierzulande wichtiger als die Verfügbarkeit von in Marokko gepulten Nordseekrabben in ganz Deutschland, die Erfüllung wichtiger Bedürfnisse wichtiger als die Auszahlung eines möglichst großen Gehalts an die Wirtschaftbosse.

  • CR
    Cathrin Ramelow

    Um die Wissenschaft nachhaltig zu verändern, bedarf es allerdings einer verstärkten Intervention von außen, da sonst die derzeitigen ProfessorInnen ähnlich denkende NachwuchswissenschaftlerInnen rekrutieren. Einen wirklichen Unterschied kann nur eine Umlenkung finanzieller Mittel auf die Erforschung neuer Methoden und Ideen machen. Nur so können kritische Perspektiven langfristig erarbeitet und von der Politik aufgegriffen werden.

     

     

    Das gilt aber doch ebenso für die etablierte Politik.

    auch da wird doch wachstum immer noch als Fetisch gesehen und aufsteigen in den Parteien darf nur wer die gleiche Meinung wie der Ziehvater vertritt. Auch da haben alternative Positionen kaum eine Chance.

    Es müsste sich sehr viel ändern in diesem und in vielen anderen Ländern.

  • D
    Daphne

    Danke für diesen wichtigen Beitrag.

    Als Vertreterin einer Organisation, die ausserhalb der Box denkt und alternative Lösungsansätze für die Bewältigung der Krise zur Diskussion stellen möchte, fühle ich mich sofort angesprochen. Niko Paech hat mit seiner Theorie der Postwachstumsökonomie einen notablen Beitrag zur Diskussion geleistet, wie es jenseits der Wachstumsdoktrin in unserer Gesellschaft auch zu gehen könnte. Am Freitag spricht er in Berlin bei einer Veranstaltung von uns in den Prinzessinnengärten über ein Europa ohne Wachstum um 19 Uhr, ich lade alle herzlich ein, sich an der Diskussion zu beteiligen. http://bit.ly/JOpN3S

  • D
    D.J.

    Ich denke, die Chinesen lachen sich über solche Diskussionen scheckig. Wachsen oder langsam untergehen - man mag dieses Spiel unschön finden, aber so wird es nun mal gespielt, ob es irgendwelchen Träumern gefällt oder nicht. Die Frage darf also nicht sein "ob", sondern "wie", also verantwortungsbewusst. Im Übrigen hat das Spiel ja auch seine positiven Seiten: Noch nie haben auf der welt prozentual so wenig Menschen gehungert wie heute (von den Linken gern ausgeblendet).

  • KB
    kritischer Beobachter

    Schön das die TAZ sich diesem Thema mal widmet. In einem Meer von Banken-, Schulden-, Euro- und Krisenartikeln ist meiner Meinung nach das Thema Wirtschaftswachstum völlig unterrepräsentiert. Obwohl es aus meiner Sicht eines der zentralen Probleme darstellt, die zur derzeitigen Lage geführt hat.

    Ich bin leider kein Wirtschaftswissenschaftler, aber trotzdem frage ich mich seit einiger Zeit, wie man überhaupt ernsthaft von Wirtschaftswachstum als Ziel sprechen kann. Dazu mal ein kleines Gedankenkonstrukt:

    Wirtschaftswachstum bedeutet laut Wiki: "die Zunahme des Bruttoinlandsprodukts (BIP), also der Summe der Preise der in einer Volkswirtschaft produzierten ökonomischen Güter (Waren und Dienstleistungen), von einer Periode zur nächsten verstanden."

    Das heißt, das zur Verfügung stehende Kapital um die Güter zu erwerben muss ebenfalls steigen.

    Das kann auf der einen Seite durch eine Inflation erreicht werden, was aber ziemlich bescheuert ist, denn wenn man Wachstum mit Inflation 'erkauft' kann man es auch gleich lassen.

    Auf der anderen Seite durch ein erhöhtes Kapital in einer externen Volkswirtschaft.

    Wenn man jetzt aber davon ausgeht, dass auch externe Volkswirtschaften auf kurz oder lang ihr Wirtschaftswachstum steigern wollen, stehen sie vor dem selben Problem.

    D.h. wenn man die Welt als ganzes betrachtet (und das sollte man meiner Meinung nach, die Märkte sind schließlich auch global), wird das Wachstum immer mit Inflation erkauft. Was für mich völlig absurd erscheint und mich dazu bringt Wirtschaftswachstum als Ziel allgemein in Frage zu stellen.

  • G
    Grünschnabel

    Wenn wir weiter auf diese Flaschen hören, die ja nur das nachplappern, was in der Industrie en vougue ist, können wir unsere Zukunft jetzt schon in die Tonne treten.

  • J
    Jörn

    Ein guter Artikel, indem die Folgen des Propagierens des endlosem Wachstums jedoch noch ausführlicher hätten dargelegt werden können.

     

    Allerdings: Wer in Deutschland für eine solche Betrachtung der Wirtschaftspolitik eintritt, erhält bei Wahlen keine 2,5%. Wie gestern erlebt.

     

    Das ist der Verdienst vieler fleißiger Lobbyisten in Wirtschaft, Politik und Medien.

     

    Und bei einer nicht gerade progressiv denkenden deutschen Bevölkerung erntet man für sowas leider auch nur Unverständnis.

     

    Lieber FDP wählen und die Märkte beruhigen. Denn sozial ist, was Arbeit - und Wachstum - schafft....

  • TB
    Tom BPunkt

    Nirgendwo auf dieser Erde gibt es unendliches Wachstum...warum gerade Wirtschaftswissenschaftler das trotzdem glauben bleibt rätselhaft.