Wanderarbeiter in China: Neues Bewusstsein
Unter jungen Wanderarbeitern gibt es eine wachsende Streikbereitschaft. Sie kennen die Arbeitsgesetze, wollen teilhaben am Wohlstand und nie wieder zurück ins Dorf.
SHENZHEN taz | Duan Yi ist ein gefragter Mann: Ständig klingelt sein Telefon. Besucher stecken den Kopf durch die Tür des schlichten Büros in der südchinesischen Industriestadt Shenzhen. Auf dem Tisch liegt ein Aufsatz, den der 52-jährige Rechtsanwalt gerade in seinem Blog veröffentlicht hat. Der Titel: "Haben chinesische Arbeiter das Streikrecht oder nicht?"
Den Artikel hat er geschrieben, sagt Duan, weil ihn derzeit "immer wieder Leute anrufen und danach fragen". Seit über zwölf Jahren kümmert er sich hier, im Herzen des chinesischen Wirtschaftswunders, um die Belange der Wanderarbeiter. "Ich vertrete bei Rechtsstreitigkeiten grundsätzlich die Seite der Arbeiter", sagt er. Er setzt sich für Entschädigungen nach Betriebsunfällen ein, kümmert sich um ausstehende Löhne oder um ungerechtfertigte Kündigungen.
Aber in diesen Wochen beobachtet Duan eine grundsätzliche Veränderung, gar einen historischen Wendepunkt in der Geschichte des Landes: "In China entsteht ein neues Bewusstsein. Wir erleben das Aufblühen einer Arbeiterbewegung!" Immer mehr Beschäftigte, sagt der Jurist und zieht an seiner Zigarette, die er an der vorigen angezündet hat, seien nicht mehr bereit, sich mit Krumen vom Tisch der Reichen zufriedenzugeben. Sie fordern höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen - und sie streiken dafür, wie jüngst bei den japanischen Autoherstellern Honda und Toyota. Es ist nicht die staatliche Einheitsgewerkschaft ACGB, die solche Streiks anführt, sondern es sind selbst organisierte Gruppen von Arbeitern. Es ist eine heikle Angelegenheit: In der Vergangenheit hat die Regierung solche Zusammenschlüsse als "illegale Organisationen" eingestuft und ihre Anführer ins Gefängnis geworfen.
Täglich erfährt Duan von neuen Aktionen in verschiedenen Regionen des Landes. Nicht nur die Autobauer, sondern auch Lastwagenfahrer, Hafen- und Textilwerker legen die Arbeit nieder. Sogar Beschäftigte in Kaufhäusern und Hotels werden unruhig. Ein Verkäufer bei dem amerikanischen Handelskonzern Walmart hat den Anwalt gerade darum gebeten, vor einer Gruppe von Kollegen einen Vortrag über ihre Rechte zu halten. Im Hinterzimmer eines Restaurants verschafft sich der Mann Luft: "Wir verdienen einfach viel zu wenig. Ich bin ein Mann von 50 Jahren und besitze nichts." 15 Jahre lang habe er bei Walmart in der Lebensmittelabteilung gearbeitet und sei immer ehrlich gewesen. Von seinem Lohn (mittlerweile mit Zulagen umgerechnet 300 Euro im Monat) aber werde er sich nie im Leben eine Wohnung kaufen können. "Ich schäme mich vor meinen Kindern!"
Vielerorts haben die Unternehmen und Behörden auf das Brodeln in der Arbeiterschaft reagiert: Die Firma Foxconn, die unter anderem für Apple Geräte wie das iPhone fertigt und durch Selbstmorde von zehn Arbeitern seit Januar in die Schlagzeilen gekommen war, erhöhte die Löhne um ein Drittel und versprach weitere Zuschläge. Die Stadt Shenzhen erhöhte die Mindestlöhne im Juli um knapp 20 Prozent auf umgerechnet 132 Euro. Noch im Dezember 2009 hatten die örtlichen Behörden geglaubt, mit einer jährlichen Steigerung von nur 3 Prozent durchkommen zu können.
Arbeiteranwalt Duan sieht für die wachsende Streikbereitschaft vor allem zwei Gründe: "Erstens ist die junge Generation von Wanderarbeitern besser ausgebildet und hat kein bäuerliches Bewusstsein mehr. Sie weiß von Arbeitsgesetzen und ist sich sicher, dass sie - anders als ihre Eltern - nie mehr ins Dorf zurückkehren wird. Ihre Zukunft liegt in der Stadt, und dort ist das Leben teurer." Er hält lächelnd sein Mobiltelefon in die Höhe: "Zweitens haben sie eine neue Waffe, mit der sie sich blitzschnell gegenseitig informieren und verabreden können."
Hundert Kilometer nordöstlich von Shenzhen mag Arbeiter Deng von Streiks nichts wissen. Der 35-Jährige ist bei der Schweizer Firma Braloba angestellt, die in der Industriestadt Huizhou Lederarmbänder für Mode- und Luxusuhren fertigt. Er steckt wie seine Kolleginnen an den Nebentischen in einer blau-weißen Werksuniform. Der Arbeitsraum ist luftig und sauber, durch die offenen Fenster auf beiden Seiten dringt Tageslicht.
Sein Chef, der 31-jährige Thomas Schori, trägt am Handgelenk eine Uhr der Edelmarke Panerai Officine. Der Familienbetrieb zog in den achtziger Jahren wie viele aus der Branche nach Asien, dem Ruf des billigen Arbeitsplatzes folgend. In Europa müssen Unternehmer für das Personal etwa die Hälfte der gesamten Herstellungskosten ausgeben, in China sind es nur rund 7 Prozent. Schori will zeigen, dass die Arbeitsbedingungen in China nicht so schlimm sind, wie viele in Europa denken. Er zitiert seine Firmenphilosophie: "Wir verdienen unser Geld nicht auf dem Rücken der Armen. Wir geben uns Mühe, das Leben unserer Mitarbeiter so angenehm wie möglich zu gestalten."
Die Schlafräume, die sich je sechs bis acht Arbeiter teilen, haben - ungewöhnlich für die Fabriken in der Region - eigene Warmwasserduschen. In den Wohnheimen der Nachbarfabriken gibt es oft nur Gemeinschaftsklos, es fehlt an Ventilatoren, gar nicht zu reden von Klimaanlagen. "Das kostet mich pro Zimmer 25 Dollar zusätzlich", sagt Schori, "aber vor allem im Winter tut es den Leuten gut." Es gibt einen Fernseh- und Leseraum, Badmintonschläger und Tischtennisplatten. Unterkunft und drei Mahlzeiten am Tag sind für die Arbeiter gratis. Um ihre Gesundheit zu schonen und Kontrolleure aus Europa zufriedenzustellen, benutzt er in seinem Betrieb teure Materialien wie wasserlöslichen Klebstoff, die in China noch nicht gesetzlich vorgeschrieben sind. Dem Arbeiter Deng zahlt Schori den offiziellen Mindestsatz, den die Behörden von Huizhou erst kürzlich um ein Fünftel erhöht haben: 97 Euro monatlich für die 40-Stunden-Woche. Das ist viel zu wenig für den Familienvater Deng: "Ich muss mindestens 120 Euro nach Hause schicken", sagt er. Seine Frau versorgt daheim auf dem Dorf ihr drei Monate altes Kind und die alten Eltern.
Also schiebt Deng wie alle anderen Arbeiter im Perlflussdelta Überstunden. Schori findet die Lösung - niedriger Lohn, lange Arbeitszeiten - völlig normal. "Wir bieten täglich drei bis vier Überstunden, oft auch einen vollen Arbeitstag am Samstag. Und manchmal, wenn es besonders drängt, noch ein paar Stunden am Sonntag."
Nach dem Gesetz allerdings dürfen höchstens 36 Überstunden im Monat gearbeitet werden. "Völlig unrealistisch", kommentiert Schori. "Damit kann keine Firma hier über die Runden kommen, und die Arbeiter brauchen das Geld doch." Immerhin entlohnt er seine Arbeiter nach Vorschrift: In der Woche muss er für Überstunden den 1,5fachen, am Wochenende den doppelten und an nationalen Feiertagen den dreifachen Stundensatz zahlen. Deng nimmt das hin, er will möglichst viel Geld verdienen. Von der offiziellen Gewerkschaft hat er noch nie etwas gehört. "Gibts hier nicht", sagt er.
Auch der Schweizer Firmenchef hat noch nie einen Gewerkschafter getroffen. Vielleicht ist ja der Verbindungsmann zur Lokalregierung, der seit 16 Jahren im Betrieb ist, auch für die Gewerkschaft zuständig? Dafür hat Braloba ein eigenes System von Betriebsräten eingerichtet, die sich alle zwei Monate treffen. Auf deren Wunsch hin hat die Firma jüngst die Kantine vergrößert und die Mittagspause um eine Viertelstunde verlängert.
Höhere Löhne für alle haben die Betriebsräte hingegen noch nie verlangt. So bleiben die staatlich festgelegten Minimalsätze die Richtschnur für die Firma - so, wie es vielerorts die Regel ist. Doch nach den Streiks bei Honda und anderswo schwant Schori, dass auch auf ihn neue Forderungen zukommen. "Es gibt eine moderne Generation von Arbeitern", sagt er, "die verlangt mehr vom Leben als die Eltern." Solange die Auftragsbücher voll sind, sieht er die Lage gelassen: "Wir haben da noch Spielraum." Schon machen sich Betriebe, wie etwa Foxconn, auf ins chinesische Hinterland, weil ihnen in Südchina die Produktion zu teuer wird. Auch Schori hält einen Umzug für möglich, irgendwann in der Zukunft - vorausgesetzt, andere Firmen seiner Branche machen mit.
Wohlhabende Minderheit
Allerdings: Dass Chinas Zeit als Werkbank der Welt zu Ende geht, sieht er nicht - und stimmt darin mit dem Arbeiteranwalt aus Shenzhen überein. Auch wenn es inzwischen eine kleine Schicht von chinesischen Managern und Technikern gibt, deren Einkommen sich den europäischen immer mehr annähern, bleiben sie doch eine winzige Minderheit. Noch reißt der Nachschub an Arbeitskräften nicht ab, die für wenig Geld zu arbeiten bereit sind: 150 Millionen Menschen werden in den nächsten Jahren aus Chinas Dörfern in die Städte kommen, schätzen Experten.
Es sind Menschen wie der Wanderarbeiter Ling aus dem Zentrum des Landes, der an diesem Tag im Lohu Talent Markt, einem städtischen Jobvermittlungszentrum, nach einer Stelle sucht. Der 22-Jährige kann, wie er sagt, Autos reparieren und hofft auf 240 Euro monatlich einschließlich Bettplatz und Verpflegung. "Wissenschaft und Technik sind Produktionskraft Nr. 1, Personal ist der Rohstoff Nr. 1", steht auf einem der vielen Banner am Gebäude.
In weiten Teilen Chinas wird deutlich weniger gezahlt als hier im Perlflussdelta. Eine Flugstunde weiter westlich, in der Millionenstadt Liuzhou zum Beispiel, liegt der offizielle Mindestlohn bei 80 Euro, in den Kreisstädten der Umgebung bei 55. "Wenn ich was für 100 Euro kriege", sagt eine junge Frau im Jobzentrum der Stadt, "nehme ich an, egal was es ist." Ihre Nachbarin arbeitet als einfache Arbeiterin in einer Druckerei und will sich verbessern: Sie träumt von einem Sekretärinnenjob für 200 Euro.
"Im Durchschnitt", prophezeit Anwalt Duan, "dürften die Arbeiterlöhne in China auch in den nächsten Zeit nicht über 300 Euro steigen". Die Regierung werde schon dafür sorgen, dass die Einkommen nur langsam wachsen: "Die Bosse können ganz beruhigt sein …"
Aber sind Streiks nun erlaubt oder nicht? Duan: "Nach der von China unterzeichneten UNO-Konvention sind sie erlaubt, und nach unserer Verfassung sind sie nicht verboten." Von der offiziellen Gewerkschaft erwartet er auch in Zukunft keine Hilfe: "Die ist wie ein Mann, der 60 Jahre lang nichts getan hat. Wie soll der sich im Alter noch ändern?"
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