Der Anfang moderner Sozialarbeit: Die Alice-Salomon-Fachhochschule feiert 100. Geburtstag
Statt zu heiraten gründete die Bürgertochter Alice Salomon 1908 die "Soziale Frauenschule" in Berlin-Schöneberg. Daraus erwuchs die heutige Alice-Salomon-Fachhochschule in Hellersdorf
Ein gutes Dutzend junger Frauen blickt heiter in die Kamera. Ihre Haare sind ordentlich gelegt, die Blusen geschlossen, die Röcke lang. In ihrer Mitte eine Dame in Schwarz mit Buch auf dem Schoß. Ein katholischer Frauenverein? Der Jahrgang eines Pensionats für höhere Töchter? Weit gefehlt. "Hier sehen Sie die Anfänge moderner Sozialarbeit", erklärt Adriane Feustel und freut sich über das Staunen, das dieses Schwarzweißfoto von 1908 bei Zeitgenossen hervorruft. Darauf zu sehen sind Schülerinnen der "Sozialen Frauenschule" in Schöneberg mit ihrer Direktorin Alice Salomon.
Das Bild hängt in Feustels Büro im Schöneberger Pestalozzi-Fröbel-Haus. Einst war dies das Arbeitszimmer der Schulrektorin, heute beherbergt es die Alice-Salomon-Stiftung. Dort lagert ein gutes Jahrhundert Sozial- und Frauengeschichte, beginnend mit den "Mädchen-und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit". Mit deren Gründung 1893 begann auch Alice Salomons Engagement für die Schwachen und Hilfsbedürftigen. Für die am Anhalter Bahnhof aufgewachsene Tochter aus großbürgerlich-jüdischem Hause war der Verein die Rettung: Mit 21 langweilte sie sich wie viele Mädchen ihres Standes im Wartestand auf die Ehe. Nach dem Wunsch der konservativen Mutter sollte Alice, die gern Lehrerin geworden wäre, einen Lederfabrikanten heiraten.
Dass daraus nichts wurde, ist ein Glücksfall für die deutsche Sozialarbeit, die eng mit der Frauenemanzipationsbewegung verknüpft ist. Die gelangweilte Alice Salomon warf sich mit all ihrer Energie in die soziale Hilfsarbeit, damals eine der wenigen akzeptierten Beschäftigungen für bürgerliche Frauen.
Ungerechte Privilegien
Auf dem Gründungskongress der Mädchen- und Frauengruppen betrat Salomon erstmals das Rote Rathaus. Sie hörte Redner wie Max Weber und begegnete anderen Bürgerstöchtern, die nach einer gerechteren Gesellschaft strebten. "Diese Frauen vertraten einen ganz neuen sozialreformerischen Ansatz", erklärt Archivarin Feustel. "Not war für sie nicht individuell verursacht, sondern eine Folge der scharfen Klassentrennung, die sie überwinden wollten."
Salomon und ihre Mitstreiterinnen empfanden die eigenen Privilegien als Ungerechtigkeit, sie sahen es als moralische Pflicht, den im Elend lebenden Arbeiterinnen zu helfen. Aus diesem Geist entstanden die Mägde-Herberge am Hackeschen Markt und der Arbeiterinnenclub an der Jannowitzbrücke, der Freizeitaktivitäten, Gesundheitsvorsorge und Abendkurse anbot. Die "Mädchen- und Frauengruppen" kämpften gegen Kinderarbeit und Säuglingssterblichkeit, für Hygiene im Haushalt sowie den 10-Stunden-Tag und Wöchnerinnenschutz am Arbeitsplatz.
"In Berlin gab es damals ein undurchschaubares Angebot von christlichen, jüdischen, städtischen und privaten Wohlfahrtsinitiativen", sagt Feustel. Dieses zu bündeln war die Aufgabe der "Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur". Dort war Salomon Assistentin der Mitgründerin Jeanette Schwerin, die zu ihrer Mentorin wurde.
Nach deren Tod übernahm Salomon eine führende Rolle in der Frauenwohlfahrt. Sie wurde Vorsitzende der "Mädchen-und Frauengruppen". Beeinflusst vom englischen Ansatz der empirischen Sozialforschung, versuchte sie die Professionalisierung der ehrenamtlichen Hilfsarbeit voranzutreiben. 1908 gründete sie die interkonfessionelle "Soziale Frauenschule" in Schöneberg - die erste Schule für Sozialarbeit in Deutschland.
Die Gründung wurde durch die preußische Mädchenschulreform vom selben Jahr möglich, die Frauen Abitur und Hochschulimmatrikulation erlaubte. Im Schöneberger Pestalozzi-Fröbel-Haus wurden 80 junge Frauen zwei Jahre lang auf Aufgaben in der Armen-, Kinder-, Jugend-, Gesundheits- und Blindenhilfe vorbereitet. Die praktische Arbeit im hauseigenen Kindergarten ergänzten Vorlesungen in Recht, Nationalökonomie, Medizin und Pädagogik. Lehrende waren unter anderem der "Armenforscher" Emil Münsterberg und die Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer. 1925 rief Alice Salomon die "Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit" ins Leben, an der auch empirisch geforscht wurde.
Erst seit 1991 trägt die renommierte Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik den Namen ihrer Gründerin, die 1937 ins amerikanische Exil ging. Als nationalsozialistische "Schule für Volkspflege" wurde das Institut bis 1945 weitergeführt. Von diesem unrühmlichen Abschnitt der Geschichte zeugt ein Buch auf dem Tisch von Christine Labonté-Roset, die seit 1994 die Fachhochschule leitet. Es belegt, wie Nazi-Größen ganze Passagen aus Salomons Texten abschrieben und für ihre Theorien über "Volksgesundheit" missbrauchten.
Das Buch ließ ein befreundeter Wissenschaftler kürzlich der Direktorin zukommen. "Wozu so ein Jubiläum nicht alles gut ist", sagt Labonté-Roset grimmig und stellt den Band gut sichtbar in ihrem von Jubiläumspublikationen und Hochschulbroschüren überfluteten Büro auf. An der Wand hängt auch hier ein Foto der Gründerin.
Praxisnahe Lehre
Der heutige Studiengang für Soziale Arbeit habe eine ganze Menge mit Alice Salomons Sozialer Frauenschule zu tun, betont Labonté-Roset. "Wir halten bis heute an Salomons Grundkonzept fest: eine theoretisch fundierte und praxisnahe Lehre mit internationalem Bezug".
Salomon habe die Pädagogik in aller Welt beeinflusst, von Skandinavien bis Japan. Zu diesen Ländern unterhalte die Hochschule ein dichtes Netzwerk. Auch die von Salomon angestoßene Akademisierung von Frauenberufen halte bis heute an. Als Beispiel nennt Labonté-Roset den 2004 eingeführten Bachelor "Erziehung und Bildung im Kindesalter", die erste akademische Erzieherinnenausbildung in Deutschland, zu der sich inzwischen der Studiengang "Physiotherapie/Ergotherapie" gesellt hat.
Eine reine Frauenschule ist die ASFH nicht mehr: 1945 wurde sie für Männer geöffnet, die heute rund 30 Prozent der Studierenden ausmachen. Dass mit 62 Prozent Dozentinnen überdurchschnittlich viele Frauen unterrichten, hätte Salomon gefreut, glaubt Labonté-Roset. "Schließlich promovierte sie 1906 über die ungleiche Entlohnung von Männern und Frauen - auch 2008 noch ein topaktuelles Thema!"
Auch wenn die von der Sozialarbeit zu lösenden Probleme heute nicht mehr Säuglingssterblichkeit und Wöchnerinnenschutz heißen, sondern Arbeitslosigkeit und Missstände in der Altenpflege - den Gedanken, dass Sozialarbeit nur global zu begreifen ist, könne man bereits im Lehrplan der "Sozialen Frauenschule" finden, sagt Labonté-Roset. Die Nachfolge-Hochschule knüpft mit Studiengängen wie dem russisch-deutschen "Doppelmaster Interkulturelle Sozialarbeit" an diesen Gedanken an.
Räumlich hat man sich allerdings weit von der alten Wirkungsstätte philanthropischer Bürgerstöchter entfernt: Seit 1998 residiert die Alice-Salomon-Fachhochschule in Hellersdorf. Den Umzug an den Stadtrand, seinerseits von heftigen Kontroversen begleitet, habe die Hochschule ganz gut verkraftet, meint die Direktorin: "Wir sind in Hellersdorf angekommen". Zahlreiche Projekte befassen sich mit den sozialen Problemen im Kiez wie der Situation von russischstämmigen Aussiedlern, Arbeitslosigkeit und Rechtsextremismus. Die Hellersdorfer seien inzwischen stolz auf "ihre" Hochschule, glaubt die Direktorin.
Lockere Kleidersitten
Im Erdgeschoss der Alice-Salomon-Fachhochschule streben Studierende von allen Seiten der Cafeteria zu. Es sind junge Männer und Frauen, manche von ihnen sprechen Deutsch mit Berliner oder süddeutschem Akzent, einige Englisch oder Französisch. Zwei Frauen diskutieren im Gang lebhaft über Teenagerschwangerschaften in Deutschland und England. Ihr Haar tragen sie offen, die Oberteile eng und die Röcke kurz.
Direkt über ihren Köpfen hängt ein Porträt der alternden Alice Salomon. Über die lockeren Kleidersitten hätte sie bestimmt wohlwollend hinweggesehen.
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