Übergangsregierung in Tunesien: Keine Kompromisse mit der alten Macht
Gewerkschaftsbasis und Demonstranten fordern die Zerschlagung der alten Regierungspartei. Die Gewerkschaft hört darauf und zieht ihre Leute aus der neuen Regierung zurück.
TUNIS taz | Der Rhythmus ist frenetisch. Seit am Freitagabend Tunesiens Diktator Zine El Abidine Ben Ali aus dem Amt gejagt wurde, hatte das Land schon den zweiten Übergangspräsidenten und die zweite Regierung. Diese stürzte am Dienstag in eine tiefe Krise, noch ehe sie überhaupt ihre Arbeit aufgenommen hat.
Die drei Minister aus den Reihen der Gewerkschaft UGTT, von denen zwei die Ressorts Verkehr und Arbeit übernehmen und einer ohne Geschäftsbereich bleiben sollte, traten noch vor ihrer Vereidigung zurück. Der für den Gesundheitsminister vorgesehene Oppositionelle Mustapha Ben Jaafar tat es ihnen gleich. Ein anderer der insgesamt drei Oppositionspolitiker werde sein Amt ebenfalls wieder abgegeben, hieß es aus Gewerkschaftskreisen. Der Betroffenen war telefonisch nicht zu erreichen, um dies zu bestätigen oder zu dementieren. Sie protestierten damit gegen die Präsenz wichtiger Vertreter des alten Regimes im neuen Kabinett.
Währenddessen gingen in der zentraltunesischen Industriestadt Sfax über 5.000 Menschen aus den gleichen Gründen auf die Straße. Aus Sidi Bouzid, von wo die Revolution gegen Ben Ali im Dezember ihren Ausgang nahm, sowie aus Bizert, Kasserine und Regueb wurden ebenfalls Demonstrationen gemeldet. In der Hauptstadt Tunis wurde ein Protestmarsch mit rund tausend Teilnehmern mit Tränengas aufgelöst.
Die Parolen richten sich gegen die alten Vertreter der alten Regierungspartei RCD in der Übergangsregierung. Außer Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi sollten unter anderem der Innen, der Verteidigungs-, der Finanz- und der Außenminister in ihren Ämtern bleiben. Die RCD soll 2,5 Millionen, anderen Angaben zufolge 1,5 Millionen Mitglieder haben. Sie kontrollierte in den vergangenen 23 Jahren das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben im Lande. Wer ihr nicht angehörte, kam unter Ben Ali nicht weit. "RCD raus!", skandierten die Demonstranten, unter denen sich in Tunis führende Mitglieder bisher verbotener marxistischer Gruppierungen, der kleinen Grünen Partei und der einst machtvollen islamistischen Bewegung Ennahda befanden.
Vor der Zentrale der UGTT in Tunis versammelten sich am Dienstag früh hunderte Gewerkschafter, während der Vorstand zu einer Dringlichkeitssitzung zusammengekommen war. Viele Mitglieder der Einheitsgewerkschaft UGTT hatten die Jugendrevolte seit Mitte Dezember aktiv unterstützt. Jetzt wollen sie die komplette Säuberung des Staates und seiner Institutionen von altgedienten Anhängern aus den Reihen von Ben Alis RCD.
Es kursieren Flugblätter mit Erklärungen verschiedener Regionalvorstände der Gewerkschaft, die bereits zu Zeiten der französischen Kolonie entstand und die ihre Unabhängigkeit auch in den Jahren der Diktatur Ben Alis zumindest an der Basis und im Mittelbau wahren konnte. "Wir lassen uns die Revolution nicht umdrehen", wettert ein Mitglied aus der Region Jendouba im Nordwesten des Landes und erntete dafür Zustimmung.
Alle reden von Ghannouchi, der unter Ben Ali bereits Ministerpräsident war, bevor er am Freitag nach der Flucht des Diktators für knapp 24 Stunden das Amt des Staatsoberhauptes einnahm, um dies dann an den Senatspräsidenten Fouad Mebazaa abzugeben, um sich selbst an die Spitze einer Übergangsregierung zu stellen. "Zusammen mit dem Innenminister hat Ghannouchi die Flucht Ben Alis und seiner Familie ermöglicht. Er kann nicht in der Regierung bleiben", sind sie sich einig. Es müsse jetzt eine "echte Alternative" her. "Eine Regierung ohne RCD, nur aus Unabhängigen und Oppositionellen." Denn sollte das Land mit einer funktionierenden RCD auf allen Verwaltungsebenen zur Wahl schreiten, sei ein Betrug vorprogrammiert, befürchten sie.
Der Gewerkschaftsführung blieb letztlich nichts anderes übrig, als auf die Basis zu hören und ihre drei Vertreter zum Rücktritt aufzufordern. "Wir folgen dem Aufruf unserer Gewerkschaft", erklärte der designierte und wieder zurückgetretene Minister für Ausbildung und Beschäftigung Houssine Dimassi.
Die Unzufriedenheit mit der Übergangsregierung ist überall in Tunis zu spüren. Ob in Cafés oder auf der Straße - die Menschen reden von der kompletten Revolution. "Wir wurden lange unterdrückt und bestohlen, jetzt reicht es", heißt eine der meistgehörten Antworten auf die Frage, was von der Übergangsregierung zu halten sei. Die RCD steht für die allgemeine Korruption. Die Nachricht, dass die Frau des gestürzten Präsidenten, Leila Ben Ali geborene Trabelsi, bei ihrer Flucht 1,5 Tonnen Gold aus der Staatsbank hatte mitgehen lassen, bestärkt die Tunesier in ihrer Wut auf alles Alte noch.
"Nazipartei" nennt Sihem Bensedrine die alte Garde. Die aus dem Exil in Spanien zurückgekehrte Menschenrechtlerin und Journalistin öffnete am Montag vor geladener Presse symbolisch wieder das Büro ihres bis Freitag verbotenen Internetradios Kalima. "Das ist die alte Regierung Ben Alis, mit ein paar Oppositionellen dekoriert", wettert sie. "Wir lassen uns keine Angst mehr machen. Zuerst hieß es, Ben Ali oder die Islamisten. Sehen sie in Tunesien Taliban? Ich nicht!" Jetzt heiße es Ghannouchi oder das Chaos. "Dabei sind es die Anhänger von Ben Ali, die das Chaos sähen wollen. Das Volk zeigt große Verantwortung und bewacht jeden Quadratzentimeter dieses Landes", lobt die Menschenrechtlerin die Selbstverteidigungskomitees, die spontan in den Stadtteilen entstanden sind. Bensedrine fordert eine verfassunggebende Versammlung und einen wirklichen Neuanfang.
Auch die eigentlichen Protagonisten der "Jasminrevolution", wie sie es nennen, die jungen Menschen, die sich das Internet zu eigen machten, um zu informieren und zu mobilisieren, sehen die Entwicklung skeptisch. "Ich bin alles andere als zufrieden", sagt Lina Ben Mhenni. Die 27-Jährige unterhält seit 2007 ihren Blog atunisiangirl.blogspot.com und schreibt bei globalvoicesonline.org. Sie war von Tunis ins Herz der Revolte nach Sidi Bouzid und Kasserine gereist, um von dort authentische Informationen zu übermitteln. Auch sie hofft, dass alle RCD-Kader aus Regierung und Staat verschwinden, obwohl sie "über die Interimsregierung noch kein endgültiges Urteil" habe.
Ein Blogger tat sich mit der Situation besonders schwer: Slim Amamou, der die letzten Tage unter Ben Ali in Haft verbrachte und unmittelbar nach dessen Rücktritt freigelassen wurde. Er ist seit Montag Staatssekretär für Sport und Jugend. Am Dienstag twitterte Slim404 fröhlich von der ersten Kabinettssitzung. "Ich werde nicht zurücktreten, um es den anderen gleichzutun. Ich trete zurück, wenn ich das für mich entscheide", lautete sein Tweet, als die Entscheidung der drei Gewerkschaftsvertreter bekannt wurde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin