Keine G'schichten ausm Paulanergarten: Wo die wilden Kerle wohnen
Derb, aber herzlich: "Muh" - das Magazin über "Bayerische Aspekte" wagt einen Spagat zwischen Brauchtum und der weltoffenen Stadt-Mittelschicht Bayerns.
PREUSSEN taz | Bier, Berge, Blasmusik. Ja, hier ist wirklich alles drin, was man als Nordostwestmitteldeutscher mit Bayern verbindet: in der Muh, einem neuen Magazin über "Bayerische Aspekte", das sinnfälligerweise seinen Sitz in der Chiemseestraße in einem Ort namens Truchtlaching hat. Denn es gibt ja auch viel zu erzählen über den großen Freistaat im Süden, der als eines von nur wenigen Bundesländern kein zusammengestoppeltes Verwaltungsgebilde ist, sondern auf eine lange Geschichte als eigenes Stammesherzog-, Kurfürsten- und Königreich zurückblicken kann - und sich nicht nur deswegen bis heute für deutsche Verhältnisse ein recht hohes Regionalbewusstsein und ein lebendiges Verhältnis zu Tradition und Brauchtum bewahrt hat.
Weil sich solch lokale Identität vor allem über die Vergangenheit definiert, ist einiges an Rückblick und Bestandsaufnahme in der Muh: Karl Valentin, der Wolpertinger, die Münchner Frühe-Achtziger-Avantgarde-Band "Sigurd Kämpft", Franz Josef Strauß' afrikanische Außenpolitik, Fingerhakeln und Fastenbräuche in Oberbayern, sie alle sind mit dabei. Und obendrauf ein langer Text über das Aussterben des Bairischen und seiner zahlreichen Subdialekte, die vom sanften Grünwalder Kaufmannsbairisch oder gleich ganz vom Hochdeutschen überformt werden.
G'schichten ausm Paulanergarten also? Nein, das wäre zu einfach, das würde dem journalistischen Anspruch des Chefredakteurs und Muh-Miterfinders Josef Winkler (der übrigens, das soll nicht verschwiegen werden, als tazzwei-Kolumnist ein Spezl unseres Hauses ist) nicht genügen. Der Brückenschlag zum Jetzt wird immer gesucht, denn es ist ja gerade die spannende Frage, inwiefern auch eine intellektuelle und weltoffene Stadt-Mittelschicht heute eine bayerische Identität verkörpern kann - zu der dann eben auch Starkbierzeit und Bergwanderungen gehören, denn warum sollte man sich dem verschließen? Am besten gelingt dieser Spagat in der Titelgeschichte über die Blasmusikbegeisterung der Jugendlichen von Bayerisch-Schwaben.
Auf diese Weise kriegt denn auch der Nichtbayer einen Einblick in die weiß-blaue Befindlichkeit. Lediglich vereinzelte Themen sind für Zugereiste eher bedingt zugänglich, etwa ein mehrseitiges Interview mit dem Haindling, Musiker Hans-Jürgen Buchner. Neben viel Kultur findet sich zudem ernster, kritischer Journalismus in der Muh: eine sehr detaillierte Recherche über den Fall des Regensburger Studenten Tennessee Eisenberg, der 2009 von Polizisten erschossen wurde (war es Notwehr oder nicht?) und eine ausführliche Bestandsaufnahme der Vermaisung Bayerns - dem rapiden Anwachsen der Maisanbauflächen im Freistaat sowie den Folgen für die Umwelt und die bayerische Kulturlandschaft - in gleich zehn Kapiteln.
Der Mix aus Althergebrachtem und Zeitgemäßem wird mit dem markanten Layout fortgeführt. An manchen Stellen wirkt die Muh mit ihren Randspalten, Kleinstfotos, Einschüben und schräg gestellten Schriftblöcken wie ein zusammengeklebtes und fotokopiertes Fanzine der Prä-Computer-Do-it-yourself-Ära - an anderen finden sich wiederum die aufgeräumt-opulente Flächigkeit und die farbentsättigten Fotos, die das alternative Magazinwesen in Deutschland aktuell auszeichnen.
Vorläufig erscheint die Muh vierteljährlich, in einer schmalen Auflage von 11.000 Exemplaren und zum Verkaufspreis von 4,50 Euro. Fürs Geld gibt's viel, das Magazin ist beinahe übervoll, dabei unterhaltsam, lehrreich und vor allem mit viel Liebe zum Detail gemacht. Da tauchen auf einmal noch Kinderseiten und - wirklich wahr - eine Witzrubrik ("knallharte Retro-Gaudi") auf. Wobei nicht jeder Text ein Gewinn ist, einige der zahlreichen Rubriken, Kolumnen und Kleinkramelemente hätte man sich sparen können, genau wie manch langer Text ein paar redigierende Kürzungen gut vertragen hätte.
Andererseits macht das die Muh auch gerade aus: Wie die Menschen aus ihrer Heimat ist sie herzlich und stets ein wenig derb und unbehauen. Ein Heft mit Charakter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren