Forscher über Antisemitismus in Österreich: „Das bleibt unter der Decke“
Wie abgründig ist die österreichische Seele, welche Bedeutung kommt Machtpragmatismus und NS-Mitläufern zu? Ein Gespräch mit dem Wiener Kommunikationswissenschaftler Gottschlich.
taz: Herr Gottschlich, wir sitzen auf dem Judenplatz in der Wiener Innenstadt. Was sagt dieser Platz über den Antisemitismus in der Stadt aus?
Maximilian Gottschlich: Es ist ein historischer Platz. Er war ein Teil des Gettos. Wir finden hier ein Holocaustdenkmal für die 65.000 ermordeten österreichischen Juden. Es wurde im Jahr 2000 hergestellt, da gab es schon überall auf der Welt welche. Zustande gekommen ist es auf Initiative von Simon Wiesenthal. Als man dann aufgegraben hat, kamen die Überreste der alten Synagoge zutage, die jetzt im Jüdischen Museum zu besichtigen sind. Gegenüber gibt es eine antisemitische Inschrift auf Latein und eine sehr distanzierte Stellungnahme über die Judenverfolgung.
Ich halte ihn für einen der schönsten Plätze Wiens. Er drückt ein ungeheures Spannungsverhältnis aus: das Denkmal mit den nach außen gekehrten Büchern, bei denen man nicht erkennen kann, um welche Bücher es sich handelt. Die Türen sind verschlossen. Das heißt, das ist unwiederbringlich verloren.
In Ihrem Buch „Die große Abneigung“ werfen Sie den Österreichern ja ein schlampiges Verhältnis zum Antisemitismus vor. Wie äußert sich das heute?
Vor wenigen Tagen wurden in Wien 43 jüdische Gräber geschändet. Darauf gab es nur drei nennenswerte Reaktionen: Von den Ermittlungsbehörden – sie ermitteln in Sachen „Sachbeschädigung“. Der sozialistische Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny zeigte sich entsetzt, weil es sich um ein „schützenswertes Kulturgut“ handelte. Und ausgerechnet der FPÖ-Chef Heinz Christian Strache spricht von Störung der Totenruhe.
Alles stimmt. Aber es geht ausschließlich um Antisemitismus. Es wurden nur jüdische Gräber geschändet. Die Medien haben es sehr kleingespielt, weil keine Parolen gefunden wurden. Wenn das Hassobjekt, der Jude, fehlt, so geht man symbolisch gegen Juden vor. Der Antisemitismus speist sich aus irrationalem Hass, und das war schon immer so.
geboren 1948 in Wien, ist seit 1983 Professor für Kommunikationswissenschaften an der Universität Wien. Mit dem Thema Antisemitismus beschäftigt er sich seit über 30 Jahren wegen seiner jüdischen Großmutter. Er kennt Israel gut und hat auch dort (christlich) geheiratet. Gottschlich betrachtet sich als Grenzgänger zwischen jüdischer und christlicher Identität. Aktuell ist im Wiener Czernin Verlag sein Buch "Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich? Kritische Befunde zu einer sozialen Krankheit" erschienen.
In Ihrem Nachwort sagen Sie, in Österreich sei der Antisemitismus nicht schlimmer als in Deutschland, Ungarn oder Polen. Trotzdem ist er spürbar. Und das gerade in Wien, wo jüdische Ausdrücke wie „Mazel“, „Ezzes“ oder „Mischpoche“ zur Alltagssprache gehören.
Das hat alles Platz in der österreichischen Seele. Erwin Ringel, der Psychiater der Nation, hat geschrieben, dass der Antisemitismus Teil der österreichischen Seele ist. Er meint die neurotischen Ursachen des Antisemitismus. Die Kinder, die schon frühzeitig um ihre Liebeserfahrung gebracht werden. In Österreich ist der Antisemitismus nicht so schnell fassbar wie etwa in Ungarn. Wir haben rund 10 Prozent militante Antisemiten, die sagen, „es graust mir, einem Juden die Hand zu geben“. Das Besondere ist, dass es eine Antisemitismus-Immunschwäche gibt. Es gibt nicht so wie anderswo den aktiven Widerstand. In anderen Ländern zeigt er sich, und man setzt sich damit auseinander.
Da gibt es eine kritische Öffentlichkeit. Diese Tradition ist in Österreich kurz. Da haben wir die gesamte Nachkriegszeit bis zum Fall Waldheim verloren. Nicht, dass es mehr Antisemitismus gibt, aber er bleibt unter der Decke, und wenn er aufbricht, wird er wieder unter die Decke geschoben. So kann jeder Zweite sagen, dass er fürchtet, die Juden könnten zu viel Einfluss auf die Geschäftswelt bekommen. Immer noch 12 Prozent meinen, es wäre für Österreich besser, keine Juden im Land zu haben. Und 22 Prozent sagen, dass wir Politiker brauchen, die etwas gegen den jüdischen Einfluss machen. Und das sind Leute, die das deklarieren. Der Graubereich ist sicher viel größer, weil ein großer Prozentsatz sozial erwünschte Antworten gibt.
Sie greifen den Streit von Bundeskanzler Bruno Kreisky (1970–1983) mit dem Nazijäger Simon Wiesenthal auf. Wiesenthal kritisierte den Kanzler, weil er ehemalige NS-Leute in die Regierung holte und mit der FPÖ paktierte. Wie kann man die antisemitischen Ausfälle von Kreisky, einem großbürgerlichen Juden, erklären?
Es sind zumindest zwei manifeste Faktoren: Das eine ist der jüdische Antisemitismus. Der großbürgerliche Kreisky, der den Krieg im schwedischen Exil überlebt, war sozusagen der Antipode zu Simon Wiesenthal, der aus dem Schtetl kommt und den Holocaust mitgemacht hat. Eine psychologisierende Erklärung ist, dass Wiesenthal das Alter Ego für Kreisky war. Simon Wiesenthals Mahnung an Kreisky war, dass er es sich richten konnte, während Wiesenthal exponiert war. Beide haben Familienangehörige verloren. Dieses Engagement, das Wiesenthal gezeigt hat, das hätte Kreisky auch wahrnehmen können. Das mag der Grund sein, dass er ihn mit Verachtung und Hass verfolgt hat.
Auf einer zweiten, politischen Ebene war Kreisky ein Machtpolitiker, der aus pragmatischen Gründen die FPÖ und den ehemaligen Waffen-SS-Offizier Friedrich Peter als Steigbügelhalter gebraucht hat. Dieser Machtpragmatismus geht über Moral. Kaschiert war das Ganze mit einem sehr breiten Begriff von Versöhnungspolitik: Man muss sich versöhnen mit den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern. Aber er übersieht, dass das ein Schuldeingeständnis voraussetzt. Man hat versucht, diese 650.000 Parteimitglieder zu integrieren. Deswegen schreibt Adorno: Die Niederlage des Hitlerismus wurde in Deutschland nicht ratifiziert. Auch in Österreich nicht. Demokratie war für sie vor allem eine Form der materiellen Prosperität, und man wollte alles andere vergessen. Aber integrieren kann man nur, was man verarbeitet.
Der Holocaust wurde vom Zweiten Weltkrieg getrennt: „Die Wehrmacht hatte mit dem Holocaust nichts zu tun“, „Wir konnten ja gar nicht anders damals“. Die berühmte Moskauer Deklaration 1943 bescheinigte Österreich, dass es das erste Opfer der Hitler’schen Aggression war – erster Satz. Zweiter Satz: Österreich ist mitverantwortlich für das, was passiert ist. Das hat man weggelassen. So blieb ein sauberer Krieg übrig, für den man nichts konnte. Weder haben die Medien eine kritische Öffentlichkeit geschaffen noch die Politik. Ein großer Prozentsatz wollte die Juden nicht zurück. An die eigene Schändlichkeit wollte man nicht erinnert werden. Jeder Jude hat sie an den Holocaust erinnert. Das wollte man verdrängen.
Bis man es nicht mehr verdrängen konnte, weil 1986 die ÖVP den ehemaligen UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim als Präsidentschaftskandidaten aufstellte und jemand dessen Vergangenheit am Balkan ausgrub.
Dann begann die Auseinandersetzung, dass Österreich nicht nur Opfer war, sondern fast geschlossen Hitler gedient und sich ihm unterworfen hat, dass nach dem Waffenstillstand hier weitergekämpft wurde. Da trägt die sozialreformerische Regierung Kreisky mit Schuld, weil sie in den 70er Jahren eine bleierne Decke über die Vergangenheit gebreitet hat. Waldheim war das personifizierte Österreichertum, ohne zu verstehen, worum es in den Angriffen geht. Es ging nie darum, ihm die rauchende Pistole nachzuweisen, sondern herauszufinden, was er wusste. Waldheim war der bestinformierte Offizier im Balkan, er musste täglich dem General Löhr rapportieren. Über die Judendeportationen in Saloniki wusste er alles. Er hat nicht begriffen, dass das nicht Pflicht war und er etwas hätte tun können. Er hätte an einem neuen Verhältnis der Österreicher zur Geschichte mitwirken können.
Die Diskussion über Waldheim hat schließlich dazu geführt, dass wir ein neues Geschichtsbild haben. In der Bevölkerung hat sich das noch lange nicht herumgesprochen. Die ÖVP marschierte im Gleichschritt mit dem Medienboulevard, diese dünne zivilisatorische Schicht war wie weggeblasen. Wir sind mitverantwortlich für das Schicksal der Juden. Die Wehrmacht war stark verstrickt in die Deportation von Juden. Dazu hat man ein neues Verhältnis gefunden. Im Bereich des Journalismus herrscht hohe Wachsamkeit vor. Sie bauen da einen Cordon sanitaire auf. Das neue Einfallstor für den Antisemitismus ist die Nahostberichterstattung.
Macht Israel denn alles richtig?
Nein. Aber es ist nicht das einzige Land, das etwas falsch macht. Der Fokus ist ein falscher. Da gibt es eine Ursache-Wirkung-Umkehr. Die Angriffe Israels auf die Hamas werden überproportional hochgespielt. Doch das Bombardement der letzten Tage mit 150 Raketen der Hamas findet kaum Widerhall in der Presse. Das lässt sich inhaltsanalytisch nachweisen. In den Medien ist immer Israel die Okkupationsmacht und schlägt unverhältnismäßig zurück. Bis 1967 war das anders. Die Linke hat ja in der Kibbuzbewegung ein sozialistisches Ideal gesehen. Als Israel dann versucht hat, sich des dreifachen Angriffs zu erwehren und die Gebiete Westjordanland, Gaza, Golan, Sinai okkupiert hat, drehte sich die Stimmung. Wenn man in Israel ist, kann man nachvollziehen, dass auch Unrecht passiert an der palästinensischen Bevölkerung. Aber der Underdog-Effekt, dass man automatisch auf der Seite des Schwächeren steht, das scheint mir eine Verzerrung der Realität zu sein. Auch der physisch Schwächere kann unrecht haben. Das sind Muster, mit denen sich die Medien der Mehrheitsmeinung der Bevölkerung anpassen. Die meisten sind der Meinung, dass Israel das Land ist, das am meisten den Weltfrieden gefährdet.
Was halten Sie vom Beschneidungsurteil in Deutschland?
Ich halte das für einen Skandal. Das ist ein Eingriff in die Religionsfreiheit und das Elternrecht. Es löst diesen kleinen chirurgischen Eingriff aus dem Gesamtkontext der Religion heraus. Das ist die religiöse Identität, dass man im Bund mit Gott ist. Man kann nicht eine Körperverletzung daraus ableiten. Hier ist zentral die Identität einer Glaubensgemeinschaft infrage gestellt. Dass am achten Tag beschnitten werden soll, ist Teil der Identität des jüdischen Glaubens. Da überschreitet der Staat seine Kompetenzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind