Debatte Afghanistan: The war must go on
Die amerikanische Öffentlichkeit interessiert sich nicht für die von Wikileaks publizierten Militärberichte - ebenso wenig wie für den Krieg.
N achdem Präsident John Kennedy gefordert hatte, den Kalten Krieg zu beenden, und plante, die Militärberater aus Vietnam abzuziehen, wurde er 1963 erschossen. Martin Luther King oder Robert Kennedy wurden als weitere Helden der Veränderung fünf Jahre später ermordet. Kennedys Nachfolger, die großartigen und skrupellosen Präsidenten Johnson und Nixon (Letzterer sekundiert durch den Oberrealisten Kissinger) haben dann den Vietnamkrieg nicht beendet, obwohl sie wussten, dass er verloren war.
Mächtige Kräfte in der US-amerikanischen Gesellschaft erlauben einen Rückzug aus unseren verunglückten militärischen Abenteuern nur bei exorbitantem Druck - und das, obwohl wir seit 1945 keinen großen Krieg mehr gewonnen haben. Irgendwie gelingt es der Kriegspartei immer, die Nation mitzunehmen, völlig unabhängig davon, ob Zweifel in der Bevölkerung existieren. Auch Präsident Obama, gebildet und intelligent, wie er ist, wird also den desaströsen Krieg in Afghanistan nicht beenden. Und auch die Papiere, die nun von der nicht allzu transparenten Gruppe Wikileaks zugänglich gemacht wurden, werden nichts an der Politik einer Gesellschaft ändern, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts in den Fängen des 20. Jahrhunderts steckt - genauer: in denen des amerikanischen Imperialismus.
Wer über Kriege entscheidet
1926 in New York geboren, lehrte als Professor für Soziologie an der Georgetown University und beriet Robert sowie Edward Kennedy. Er war Mitbegründer der New Left Review und arbeitet heute u. a. für The Nation.
Entscheidungen über Krieg und Frieden werden in den USA an der Staatsspitze getroffen, dann getreulich durch die weitgehend konformistischen Medien legitimiert und anschließend von der halb entpolitisierten Bürgerschaft entweder begeistert oder resigniert akzeptiert. In jedem Wahlbezirk findet sich entweder eine Militärbasis, eine Waffenfabrik oder ein wissenschaftliches oder technisches Labor, das aus dem Verteidigungstopf bezahlt wird. Kongressabgeordnete und Senatoren votieren in der Regel nicht gegen die Existenzgrundlage ihrer Wähler.
Hinzu kommt ein großer, in den Universitäten und Forschungszentren angesiedelter intellektueller Apparat, der eine gegen jede Veränderung resistente Weltsicht produziert. Laut dieser ist die Nation pausenlos bedroht und eine aggressive Außenpolitik daher die einzige Lösung. Auch General Petraeus hat seinen Doktor in Princeton gemacht - und es sind seine Truppen, die die gezielten Tötungen fortsetzen werden. Die US-Truppen können sich weiter darauf verlassen, dass keine ihrer Kriegsverbrechen als solche geahndet oder auch nur wahrgenommen werden.
Im Heer der ganz normalen Soldaten finden sich überproportional viele Afroamerikaner, Latinos, Migranten und mittellose Weiße. Das Offizierskorps gibt ihnen die Chance auf sozialen Aufstieg. Rund sechs Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts verschlingt jährlich das Militär, wobei die Kriege im Irak und in Afghanistan bislang etwa ein Prozent verbraucht haben. Die meisten Bürger tangieren die unmittelbaren Konsequenzen des Krieges nicht, die Langzeitfolgen erscheinen ihnen allzu abstrakt.
Marsch der Lemminge
Ende letzten Jahres dachte die Mehrheit noch, der Krieg in Afghanistan sei die Mühe nicht wert. Trotzdem gab es keine Massenproteste gegen ihn, und der Streit um den Afghanistaneinsatz beschränkt sich auf elitäre Zirkel und gelegentliche Debatten im Kongress oder Senat. Obama seinerseits hielt es für opportun, die von Bush ererbte Militärstrategie im neuen Gewand zu präsentieren. Seinen Oberkommandeur McChrystal musste er wegen politischer Taktlosigkeit entlassen. So wurde jetzt Petraeus an dessen Stelle gesetzt - just in dem Moment, in dem die durch ihn vermeintlich erreichte Stabilität im Irak zu erodieren begann.
Die jüngst veröffentlichten, ehemals geheimen Militärpapiere enthalten tatsächlich nichts, was die Zeitungsleser nicht bereits seit Jahren wüssten. Die Angriffe auf die allgegenwärtigen "Taliban" fordern kontinuierlich zivile Verluste und schüren eine tiefe Feindschaft bei den Afghanen. Die afghanische Regierung ist korrupt und ihren Truppen fehlt es an Kompetenz. Die pakistanische Armee und die rudimentäre Regierung dieses Landes führen uns gemeinsam an der Nase herum. Al-Qaida ist offensichtlich weitergezogen und der Krieg wurde zu einer vornehmlich afghanischen Angelegenheit, natürlich überformt durch die unnachahmliche Mischung von ethnischen Konflikten und islamischem Obskurantismus in diesem Land - beides wird zweifellos die euro-amerikanischen Invasoren überleben.
Mehr Stalingrad als Saigon
Die Beharrlichkeit der USA ist vor allem der Vorrangstellung des "Krieges gegen den Terror" geschuldet - sie ist ein unbezwingbarer Teil unserer nationalen Ideologie geworden. Folglich stellt sie auch die Basis unserer Außenpolitik dar. Die Israel-Lobby benutzt den Krieg den Terror, um die Allianz mit Israel zu stärken (und um den Weg für einen Angriff auf den Iran zu ebnen). Sie verfügt über mächtige Verbündete aus beiden Parteien und verbindet damit progressive Demokraten mit republikanischen Unilateralisten.
Ein wirtschaftlich sinnvoller und politisch rationaler Weg, Afghanistan seiner Geschichte zu überlassen, wäre, Indien, Pakistan und Iran dazu zu überreden, sich auf Maßnahmen zu verständigen, welche die Region zumindest bis zu einem gewissen Grad stabilisieren. Doch eine solche Bevormundung ist uns leider unmöglich: Sie würde die bösen Geister von Amerikas Verletzbarkeit wecken.
Jedoch, vielleicht werden wir schon bald erleben, wie schwach die USA tatsächlich sind. So könnte sich eine Evakuierung unserer Truppen aus Afghanistan als nicht durchführbar erweisen. Dann könnte es passieren, dass Kabul nicht dem Saigon von 1975 ähnelt, sondern Stalingrad im Jahr 1943. Doch für solche Überlegungen interessiert sich die Öffentlichkeit nicht.
Vielleicht könnten unsere europäischen Freunde helfen, eine kriegskritische Haltung auch in der US-amerikanischen Öffentlichkeit zu verankern. Doch für eine solche Herkulesaufgabe wären Freunde von Format nötig. Die aber haben wir nicht. Denn Cameron, Merkel und Sarkozy haben sich längst in den Marsch der Lemminge eingereiht, der uns an den Rand des Abgrunds führen wird.
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ines Kappert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin