Debatte Steuersenkungen: Mehr Netto vom Netto
Steuersenkungen werden von steigenden Kita-Gebühren oder den Wasserkosten aufgefressen. Denn die gleichzeitige Privatisierung verteuert das alltägliche Leben.
Mehr Netto vom Brutto!" Das hat die Bundesregierung bei ihrem Antritt im vergangenen Herbst versprochen. "Entlastung der Bürger", lautet das Dogma, an dem seit über zehn Jahren schon jede Bundesregierung eisern festhält: weniger Abzüge vom Lohn, weniger Steuern.
Zu Helmut Kohls Zeiten noch lag der Spitzensteuersatz bei 53 Prozent. Das rief Mitte der 1990er-Jahre eine gewaltige Lobby aus Wirtschaftsexperten, "Reform"-Politikern und Medien auf den Plan. Sie alle forderten tagein, tagaus, Leistung müsse sich mehr lohnen: mehr Geld zum Ausgeben, mehr Kinobesuche und teuere Urlaube.
Die Steuerentlastungsrhetorik führt jedoch absichtsvoll in die Irre. Was den Arbeitnehmern vom Bruttolohn abgezogen wird, fließt an den Fiskus und in die gesetzlichen Versicherungen. Dafür erhalten er und sie Gegenleistungen wie staatliche Schulbildung, medizinische Versorgung und Arbeitslosengeld.
Rainer Kreutzer lebt als freier Journalist in Hamburg und ist dort auch als Sozialpädagoge tätig. Seine Themenschwerpunkte sind Sozialpolitik und Wirtschaft.
Reduziert man die Abzüge vom Bruttolohn, dann steigt auf der Gehaltsabrechnung die Summe des Nettolohns. Das ist der Trick, mit dem mehr Kaufkraft vorgetäuscht werden soll. Tatsächlich aber sinken seit zwei Jahrzehnten die Reallöhne, und an den Kosten für das alltägliche Leben ändert sich durch eine reine Zahlenverschiebung wenig.
Ein Normalverdiener mit 35.000 Euro brutto pro Jahr zahlt heute rund 1.500 Euro weniger Einkommenssteuer als noch vor zehn Jahren. Mehr Netto vom Brutto? Irrtum: In der Zwischenzeit sind eine Reihe neuer Kosten hinzugekommen, die vom nominal höheren Netto beglichen werden müssen. Das sind in einigen Bundesländern die Studiengebühren von 1.000 Euro pro Jahr, die Beiträge zur Riesterrente, zu den privaten Krankenzusatzversicherungen, die steigenden Eintrittspreise in Schwimmbädern und Museen.
In Hamburg hat der schwarz-grüne Senat alleine in diesem Jahr die Kita-Gebühren auf einen Schlag um bis zu 100 Euro pro Kind nach oben geschraubt. Alleine schon dieser Happen frisst jene "Steuerentlastungen" auf, die dem Otto-Normalverdiener von der jetzigen Bundesregierung auf dem Papier gutgeschrieben werden. Hinzu kommt eine Fahrpreiserhöhung beim Hamburger Verkehrsverbund um 3,2 Prozent, und ab April will der Senat bei leichten Verkehrsunfällen für den Polizeieinsatz Cash eintreiben.
Die Blaulichtgebühr, deren Höhe noch nicht feststeht, könnte eine neue Kostenlawine lostreten: nicht nur, dass sie vermutlich jährlich angehoben werden wird - sie könnte auch auf andere Einsatzgebiete erweitert werden: vielleicht auf Fahrraddiebstähle, Einbrüche und Überfälle. Wer in einer unsicheren Gegend wohnt, müsste dann eine private Polizeieinsatzvorsorgeversicherung abschließen. Die Beiträge dafür werden selbstverständlich nicht vom Brutto, sondern vom Netto gezahlt, wie bereits schon jene für den privaten Fondssparplan und die Ausbildungsversicherung für die Kinder.
Getäuschte Mittelschicht
Weniger Netto vom Netto ist das Ergebnis, wenn der Staat auf Steuereinnahmen verzichtet und die gesetzlichen Sozialversicherungen finanziell ausbluten lässt. Gesundheitsminister Philipp Rösler plant bereits die nächste Attacke auf den Nettolohn. Der ohnehin schon privatversicherungsgeschundene Bürger soll auch noch Beiträge für eine private Pflegeversicherung zusätzlich berappen.
Von einer Entlastung der Leistungsträger in den unteren und mittleren Einkommensstufen kann keine Rede sein. Nur für jene, bei denen Studiengebühren und Kita-Beiträge ohnehin nur Peanuts sind, wirken Steuersenkungen als weitere Zusatzgewinne, die steueroptimiert reinvestiert werden: etwa in leerstehende Bürogebäude, die nicht nur in Hamburg den Bau neuer Wohnungen verhindern und damit die Mieten künstlich in die Höhe treiben.
Der finanzschwache Staat musste seit den 1990er-Jahren zahlreiche Betriebe wie Wasserwerke, Energieversorger und Krankenhäuser verscherbeln, um kurzfristig die Löcher zu stopfen, die durch Steuerentlastungen und -schlupflöcher entstanden waren.
Auch die Kosten dafür zahlen jene Leistungsträger, die es am meisten schmerzt, wenn, wie in Berlin, die Gebühren für das privatisierte Wasser in die Höhe schießen, wenn die Mieten steigen, weil eine Stadt ihre eigenen Wohnungen an Immobilienhaie veräußert hat und sich das Land vom sozialen Wohnungsbau verabschiedet. Das sind jene Sekundärabzüge vom Nettolohn, die in die privaten Konzerne fließen und auf keiner Gehaltsabrechnung auftauchen, aber umso größer werden, je mehr von Steuerentlastung geredet wird.
Das gute Leben
Je "schlanker" sich der Staat macht, desto nutzloser werden die Kategorien Brutto und Netto. Als entscheidend für den Lebensstandard erscheinen zunehmend die Fixkosten eines Wohnortes: ortsgebundene Gebühren, Gas- und Wasserpreise, aber vor allem, ob man etwa die Hälfte seines Nettos für die Miete in einem Hamburger Gentrifizierungsgebiet ausgibt oder nur ein Drittel für eine Wohnung im beschaulichen Lübeck. Dass weniger Staat und mehr Privatwirtschaft die Bürger entlasten, dieser Glaube gerät inzwischen ins Wanken, seitdem die Gebühren trotz (oder wegen?) der Privatisierungen rasant steigen.
Einige Städte kaufen ihre privatisierten Betriebe bereits wieder zurück. Das kostet Geld. Aber warum eigentlich sollte man die einkommensbezogenen Steuern nicht erhöhen? Das gilt in Deutschland noch immer als Tabu, obwohl man mit den Einnahmen vor allem die Leistungsträger mit geringen und mittleren Einkommen entlasten könnte: Mehr Netto vom Netto! Das bedeutet etwa gebührenfreie Kitas und Unis, freie U-Bahn-Fahrt für alle - eine gebührenfreie soziale Infrastruktur, aber dafür höhere Steuern - vor allem auf höhere Einkommen.
Eine Entlastung von den Kosten für die alltägliche Basisversorgung stärkt die Kaufkraft und schützt mehr vor Armut als Geldzahlungen von Behörden und Versicherungen, die schon im nächsten Moment durch neue Gebühren- und Beitragserhöhungen aufgezehrt werden. Weniger Netto vom Brutto lohnt sich dann, wenn mehr Geld für ein gutes Leben bleibt - für die Mehrheit der Bevölkerung.
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