Wiederaufbau nach dem Erdbeben in Haiti: "Man hat uns vergessen"
300.000 Menschen sind beim Erdbeben in Haiti gestorben, Millionen wurden obdachlos. Port-au-Prince gleicht noch immer einem riesigen Notlager. Wie geht der Wiederaufbau voran?
PORT AU PRINCE taz | Aus der Luft sieht die haitianische Hauptstadt aus wie eine riesige Flickendecke. Blau schimmernde Vierecke wechseln sich mit rötlich rostbraunen und weißen ab, die in der prallen Sonne aufblitzen. Der Blick von oben auf scheinbar wohlgeordnete geometrische Formen, auf Rechtecke, Rauten und Dreiecke, täuscht darüber hinweg, wie sich die Wirklichkeit auf dem Boden darstellt.
Auch mehr als vier Monate nach dem Beben vom 12. Januar stehen blaue, weiße und rostbraune Zelte kreuz und quer im gesamten Stadtgebiet, um mehr als einer Million Obdachlosen Unterkunft zu geben. Port-au-Prince gleicht noch immer nach der Landung auf dem Flugfeld des Aéroport International Toussaint Louverture einem riesigen Notlager.
Weite Teile des Hauptgebäudes des Flughafens sind wegen Einsturzgefahr nicht nutzbar. Die Flugleitung ist nach wie vor provisorisch in der Nähe der Landebahn eingerichtet. Auf der Rasenfläche im Westen stehen Dutzende von Zelten für die US-amerikanischen Truppen, die das Areal schützen sollen. Keine zwanzig Meter entfernt und nur durch eine kaum zwei Meter hohe Mauer getrennt beginnt die Katastrophenatmosphäre, die die 3-Millionen-Metropole Port-au-Prince seit dem schweren Beben dominiert.
Stephanie Guilleaume lugt halbversteckt hinter der Eingangsplane ihres kleinen Zeltes auf dem Gelände hervor, das von einem stinkenden Abwasserkanal umflossen wird. Fünf Personen - Stephanie, ihre Schwester, ihre Mutter, eine Cousine und die fünf Jahre alte Johanna Joseph, eine Waise, die die Familie aufgenommen hat - drängen sich auf den knapp zehn Quadratmetern. "Man hat uns vergessen", sagt die 17-jährige Schülerin mit dem zusammengeknoteten orangefarbenen Kopftuch. "Die Behörden wollen uns weghaben, aber niemand sagt uns, wo wir hin sollen."
Fünf Kilometer weiter südlich, über dem Zentrum der haitianischen Kapitale, liegt gräulicher Staub in der Luft, der den Blick durch die Straßen vernebelt. Lautsprecher mit ihren überdrehten Bässen schicken Kompa- und Raprhythmen aus den bunt bemalten und laut hupenden Tap-Tap-Bussen in die Umgebung. Den Takt dazu schlagen die haitianischen Betonspechte, die sich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang daran machen, die in sich zusammengestürzten Gebäude in der Innenstadt zu pulverisieren bis nur noch die Moniereisenskelette übrig sind.
Margerita Laguere hat in der Rue des Miracles ihren fliegenden Alteisenankauf errichtet. Die Hängewaage bedient einer ihrer Arbeiter. Kritisch beobachtet Luisel Jean den sich bei 29,5 Kilogramm einpendelnden Zeiger. Der 32 Jahre alte Mann hat den ganzen Tag dafür gearbeitet, um zwei Säcke mit Schrott von den Trümmergrundstücken einzusammeln. Für die insgesamt 61 Kilo bekommt er 200 Gourdes. "Ein gutes Geschäft", freut sich Margerita Laguere, die das Alteisen an einen Großhändler am Hafen verkauft, der es in die Schmelzen in den USA transportieren lässt. Und auch Jean ist mit seinen knapp vier Euro zufrieden, "damit komme ich einen Tag aus", sagt der Familienvater von vier Kindern.
Betonspechte wie Jean François Frantz und seine sechs Kollegen, die in der Rue Turgeau 108 mit Vorschlaghammer, Bolzenschneider und Schaufeln für 800 Euro in drei Wochen das zweigeschossige Haus zerlegen und abtragen sollen, dominieren das Bild in der Metropole. In Stadtteilen wie Nazón, Bel Air und Morne a Tuf, in denen die kleinen Leute der Stadt wohnen, ist Handarbeit angesagt, regieren Fäustel das Aufräumprogramm. "Wenn es so weitergeht", kommentiert ein Spötter, "dann wird das Abrissprogramm noch Jahre in Anspruch nehmen."
Millionen für den Palast
Welche Prioritäten beim Wiederaufbau der Erdbebenregion dagegen die haitianische Regierung und Staatspräsident Réne Préval setzen, sieht man am eingestürzten Präsidentenpalast. Schweres Räumgerät wird nur bei den Ministerien und öffentlichen Einrichtungen eingesetzt - und bei Privatleuten, die über das nötige Kleingeld und die Verbindungen verfügen, um die Bagger mieten zu können. Der dem Washingtoner Capitol nachempfundene weiße Prachtbau soll nach dem Willen Prévals schon bald wieder im alten Glanz der Amtssitz des Staatschefs sein. 120 Millionen Euro soll das zwischen 1914 und 1921 gebaute Herrschaftsmonument kosten. 41 Millionen davon möchte Frankreich seiner ehemaligen Kolonie Haiti stiften.
In der Provinz sieht der Besucher jedoch die Fortschritte, die erreicht werden konnten - durch eine aktive Stadtverwaltung und mithilfe ausländischer Nichtregierungsorganisationen. In Jacmel wimmelt es von Helfern, die Abwassergräben säubern, Abfall auf Lastwagen schaufeln und vor allem Trümmer beiseite räumen. Das einstige Ferienzentrum und der Kaffeehafen in der Karibik mit seinen zweigeschössigen Kolonialbauten mit den hohen Arkaden ist weitgehend zerstört. Von der pittoresken "Perle der Karibik", die mit ihrem Karneval kulturelle Akzente in der Region setzte, ist wenig übrig geblieben.
Aber es wurden die Ärmel aufgekrempelt: Gelbe Bauhelme und hellgrüne T-Shirts mit dem Logo der Deutschen Welthungerhilfe tragen die einen, dunkel-grüne Shirts mit der Stadtaufschrift und dem Symbol der US-amerikanischen staatlichen Hilfsorganisation USAID andere, die mit Schaufeln, Mistgabeln und Schubkarren dem Schutt zu Leibe rücken. Fast 2.000 Männer und Frauen werden mit dem staatlichen Tagesmindestlohn von 200 Gourdes, rund vier Euro, dafür bezahlt, dass sie eingestürzte Häuser abreißen, brauchbare Steine vom Zement säubern und die Trümmer beseitigen. "Cash for Work" heißt das Beschäftigungsprogramm, das den Beteiligten Geld verschaffen und damit indirekt die lokale Wirtschaft ankurbeln soll.
"Mit dem Beschäftigungsprogramm garantieren wir den Betroffenen ein minimales Einkommen. Damit können sie Lebensmittel und andere Bedarfsgüter selbst kaufen", betont Rüdiger Ehrler, der Koordinator der Welthungerhilfe für die Nothilfe in Haiti. Die Stärkung der Kaufkraft helfe der Normalisierung des Wirtschaftslebens in der Region. "Wir sind froh, dass wir die Hilfe aus dem Ausland bekommen. Wir könnten das nicht finanzieren", sagt der Sprecher des Bürgermeisters, Frantz Pierre-Louis. "Wir koordinieren gemeinsam wo, wann und was abgerissen wird."
Zwei Tage für ein Haus
Elisabeth Pierre ist eine der Trümmerfrauen. Zwei Wochen arbeitet die 53-jährige Mutter von drei Kindern in dem Programm. Der Mann der Obdachlosen kam bei dem Erdbeben ums Leben. Pierre ist eine von 20 Personen, die einen Bautrupp bilden und innerhalb von zwei, drei Tagen ein Haus abreißen. Auf der Freifläche wird ein Zelt errichtet, damit dort dann die Besitzerfamilie provisorisch wohnen kann. Zwar gibt es internationale Standards für erdbebensichere Unterkünfte, aber die Bau- und Konstruktionspläne müssen noch auf die regionalen Gegebenheiten und Erfordernisse in Haiti angepasst werden.
In einem Hinterhofkarree an der Rue de la Comédie sitzt auf einem Treppenabsatz Doudline Casimir. Die zweifache Mutter schaut auf die Reste ihres Besitzes, zwei bereits angeschimmelte zerrissene Matratzen, zerbrochenes Geschirr, zerrissene Kleidung und Steine, Steine. Die 24-Jährige schlief, als bei dem Beben das Dach einstürzte. Sie konnte sich retten, obwohl sie verletzt war. Ihre beiden vier- und zehnjährigen Kinder und ihre beiden Geschwister gruben Nachbarn unverletzt aus den Trümmern aus. Sie selbst wurde am Kopf und am Arm verletzt, die Narben sind noch immer sichtbar. Ihr Mann, der bei einer Behörde in Port-au-Prince arbeitete, wurde von einem einstürzenden Gebäude erschlagen.
Zwei Wochen hat Doudline Casimir Trümmer weggeräumt, jetzt ist die junge Frau selbst Nutznießerin der bezahlten Nachbarschaftshilfe. 15 Männer und Frauen sind dabei, die sechs mal vier Meter große Fläche ihrer ehemaligen Unterkunft leerzuräumen. Aber wie soll es weitergehen, fragt sie immer wieder. Gelernt hat die junge Frau nichts, sie ist pleite und noch viel schlimmer: inzwischen bis über beide Ohren verschuldet. In der nahe gelegenen kleinen Bude an der Komödienstraße kann sie anschreiben lassen, wenn sie Reis, Bohnen, Öl und Gemüse für das Mittagessen einkauft. "Aber für zehn Tage bezahle ich zehn Prozent Zinsen."
Anschreiben beim Händler
Wer jetzt etwas Geld hat und es verleihen kann, verdient sich in Haiti eine goldene Nase. Oft sind es die kleinen Händlerinnen und Händler wie Alphone Paris, die an der Straßenecke Obst, Gemüse und Kräuter verkaufen, die anschreiben, damit ihre Kunden ihr überhaupt etwas abkaufen, und die sich selbst dafür bei ihrem Großhändler verschulden müssen. Und so ist das Geld, das die Hilfsorganisationen an die Teilnehmer des "Geld-für-Arbeit-Programms" auszahlen, für viele Familien das einzige Einkommen, aber oft auch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein der Familienkasse.
In Petit-Goâve, rund 85 Kilometer nördlich von Jacmel und 70 Kilometer von Port-au-Prince gelegen, ist auf vielen Mauern im Stadtzentrum ein roter Kreis mit einem Punkt gesprüht: "A Demolir". In der Grand Rue trägt fast jedes Haus, das noch nicht in sich zusammengebrochen ist, das Kainsmal der angekündigten endgültigen Zerstörung. Die ehemals quirlige Hauptstraße der Hafenstadt liegt auch am Nachmittag wie ausgestorben da. Ziegen haben es sich auf der schattigen Arkade der "Pharmaci du Peuple" bequem gemacht, die Eingangstüren sind notdürftig mit Brettern und Ketten verrammelt.
Auch in Petit-Goâve, das in der Nähe des Epizentrums vom 12. Januar liegt, beschränken sich die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aufs "Demolieren". Die Glücklichsten leben inzwischen auf ihrem freigeräumten Grundstück und hoffen darauf, dass endlich Beschlüsse im fernen Port-au-Prince fallen.
"Wir warten auf eine Entscheidung der Regierung", schimpft Marie Ilamise, die in einer der einsturzgefährdeten Ruinen lebt, "aber niemand beschließt etwas."
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