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Kommentar SozialprotesteSchlechter Zeitpunkt

Kommentar von Svenja Bergt

Die Gewerkschaften zurück und rufen allenfalls lokal zu Protesten auf. Die eigene Klientel ist kaum von den geplanten Einsparungen betroffen. Diese Haltung ist mehr als kurzsichtig.

W ie verabschiedet man ein Sparpaket, ohne damit in der Bevölkerung allzu große Proteste zu riskieren? Das ist eine Frage, auf die viele Regierungen gern eine Antwort hätten. Die Bundesregierung hat dabei ein sicheres Gespür an den Tag gelegt - sowohl was den passenden Augenblick als auch was das Bündel von Maßnahmen betrifft, das am wenigsten Widerstand zu provozieren droht.

Zum einen profitiert die Regierung davon, dass derzeit eine Fußballweltmeisterschaft nicht nur die Nachrichten, sondern auch den Alltag vieler Menschen beherrscht. Einen besseren Zeitpunkt hätte sie kaum wählen können, um den erwartbaren Protesten von vornherein den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Hinzu kommt, dass viele der geplanten Sparmaßnahmen vor allem jene Bevölkerungsteile betreffen, die nicht in klassischen Institutionen - wie etwa in Gewerkschaften - organisiert sind. Das erschwert eine schnelle Mobilisierung zu Protesten. Gleichzeitig wurden die stärker organisierten Teile der Bevölkerung verschont. Die Steuerfreiheit von Nacht- und Sonntagszuschlägen wurde nicht angetastet, weil sonst die Arbeitnehmerverbände ganz schnell auf der Straße gewesen wären. Dass hingegen das Elterngeld für Hartz-IV-Bezieher gestrichen werden soll, juckt die meisten Beschäftigten kaum: Die Solidarität mit Arbeitslosen hält sich bei vielen in engen Grenzen.

Svenja Bergt

ist Redakteurin im Berlin-Teil der taz.

Zum Vergleich: Als eine Bundesregierung das letzte Mal ein großes Sparpaket beschloss, reichte die Liste der Streichvorschläge von Einschränkungen des Kündigungsschutzes bis zur reduzierten Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Dagegen gingen 1996 allein in Bonn Hunderttausende auf die Straße. Kein Wunder, denn fast jeder Beschäftigte war davon betroffen. Nun aber halten sich die Gewerkschaften zurück und rufen allenfalls lokal zu Protesten auf. Schließlich ist die eigene Klientel kaum von den geplanten Einsparungen betroffen.

Diese Haltung ist mehr als kurzsichtig. Denn nimmt man die Entwicklung ihrer Mitgliederzahlen als Maßstab, dann lässt die Attraktivität von Gewerkschaften derzeit eher nach. Dagegen können die Gewerkschaften nur angehen, indem sie soziale Verantwortung für die gesamte Gesellschaft übernehmen - also auch für diejenigen, die sich nur schwer organisieren können.

Wer erst dann auf die Straße geht, wenn er die eigenen Pfründen bedroht sieht, wird feststellen, dass es dann schon zu spät sein könnte. Denn wer sich als Arbeitnehmer heute in Sicherheit wähnt, kann morgen schon arbeitslos sein.

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Redakteurin für Wirtschaft und Umwelt
schreibt über vernetzte Welten, digitale Wirtschaft und lange Wörter (Datenschutz-Grundverordnung, Plattformökonomie, Nutzungsbedingungen). Manchmal und wenn es die Saison zulässt, auch über alte Apfelsorten. Bevor sie zur taz kam, hat sie unter anderem für den MDR als Multimedia-Redakteurin gearbeitet. Autorin der Kolumne Digitalozän.
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2 Kommentare

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  • H
    hto

    "Diese Haltung ist mehr als kurzsichtig" - das ist extrem blödsinnig, wo es doch längst ziemlich klar ist, wodurch und wofür Gewerkschaft STEHT.

     

    Gewerkschaft steht AUSSCHLIEßLICH für die systematische Verkommenheit in funktional-gebildeter Suppenkaspermentalität auf Sündenbocksuche, für das "gesunde" Konkurrenzdenken im "freiheitlichen" Wettbewerb - eben das zeitgeistlich-reformistische Marionetten-Theater im geistigen Stillstand seit der "Vertreibung aus dem Paradies", mit konfusionierend-bewußtseinsbetäubender Überproduktion von systemrationalem Kommunikationsmüll.

     

    Es ist absolut schwachsinnig, an die "Treuhänder" und Institutionellen der "Demokratie" durch Kreuzchen auf dem Blankoscheck zu glauben, und somit sind Proteste und Forderungen an selbige stumpf- wie wahnsinnig - mehr als kurzsichtig, wenn man sich immer wieder selbst ans Bein pinkelt!?

  • H
    Hans

    Guter Kommentar von SVENJA BERGT, aber: Die Leute haben ohne große Mühe schon zwei Demos hingelegt.

    Die WM wird vielen Menschen ganz klar den Kopf vernebeln, ich habe einen Freund, der dafür sogar Urlaub nimmt. Aber das Paket hat im Prinzip keine richtige Begründung und die Aussagen von den Regierungesmitgliedern (Von der Leyen: Einsparungen sind Investition) müssen einen logisch denkenden Menschen schockartig aufwachen lassen.

     

    Ich kann mir auch ganz gut vorstellen, dass die ohnehin gebeutelte Gewerkschaft ver.di das Sparpaket auf die eigene Interessenlage runterbrechen kann. Und das schläft mindestens diese Organisation schon nicht mehr: Denn die Einsparungen könnten den Durchschnittsbeamten hart treffen, zumal niemand im Detail berechnet hat, ob diese Maßnahmen überhaupt gehen.

     

    Ich würde darauf wetten, dass es eine 45-Stunden-Woche erfordert, um diese Anzahl an Beamten einzusparen und das sollten ver.di und Beamtenbund aufschrecken lassen, weil Arbeitszeit in Tarifverträgen steht. (Und viele Beamte ihre niedrigen Entlohnungen mit 400-EURO-Jobs auffrischen, die allerdings mit einer 45-Stunden-Woche nicht mehr gehen)