Aufarbeitung der Diktatur in Indonesien: Frau L. will wieder reden
Die 80-jährige Lestari hat Suhartos Kommunistenjagd der 1960er Jahre in Indonesien überlebt. Sie wünscht sich, dass niemand mehr Angst vor ihr hat.
JAKARTA taz | Im weiß gefliesten Gang des zweistöckigen Wohnhauses steht eine kleine alte Dame und streckt beide Hände zur Begrüßung entgegen. Ihr Gesicht sieht aus, als hätten die Lachfalten um die Augen keinen Platz mehr gefunden und sich über den Rest des Gesichts ausgebreitet.
Lestari wohnt in einer Wohngemeinschaft, in der man nicht als Erstes Lachfalten vermuten würde. Die Achtzigjährige teilt das Haus mit zehn Männern und Frauen, mit denen sie etwas verbindet, über das sie lange nicht gesprochen hat. Als Kommunisten verbrachten sie, während der Suharto-Diktatur, über ein Jahrzehnt im Gefängnis ohne Gerichtsverfahren.
Anfang der 50er Jahre, Indonesien hatte sich gerade aus holländischer Kolonialherrschaft befreit, gehörte Lestari mit zu den Gründerinnen der Frauenorganisation Gerwani. „Indonesien brauchte damals eine revolutionäre Frauenorganisation“, sagt sie heute. „Demokratie ist doch nicht zu verwirklichen mit einem Volk, das nicht lesen und schreiben kann. Frauen hatten damals kaum Bewusstsein für Gleichberechtigung.“ Dass sie lesen und schreiben konnten, war eher die Ausnahme. Deshalb baute Gerwani ein Netz von Kitas und Schulen auf und verschaffte Frauen Zugang zu elementarer Bildung. „Wir haben die Analphabetenrate signifikant verringern können.“
Seit Juni 2008 sammelt die Indonesische Menschenrechtskommission (Komnas HAM) Fakten zu einem der größten Massenmorde des 20. Jahrhunderts. Im Zuge der Machtübernahme von Diktator Suharto wurden 1965/66 zwischen 500.000 bis zu einer Million vermeintliche und tatsächliche Kommunisten umgebracht. Hunderttausende kamen ohne Gerichtsverfahren ins Gefängnis.
Für den Bericht wurden mehr als 350 Zeugen befragt. Nach Angaben der Kommission sind die Ermittlungen abgeschlossen. Am 8. Mai soll der Bericht von der Kommission beschlossen werden. Er könnte den Grundstein zur strafrechtlichen Verfolgung der Täter durch das Oberste Gericht Indonesiens und für Reparationsforderungen der Opfer bilden.
Kritiker bezweifeln indes, dass es so weit kommt. Viele Täter und Opfer sind inzwischen verstorben. Einige heutige politische Entscheidungsträger haben enge Verbindungen zu jenen Militärs, denen der Bericht schwere Menschenrechtsverletzungen vorwirft. (kel)
Lestaris Rücken ist gebeugt, ihr Verstand jedoch hellwach, ihre Worte sind klar. Mit leuchtenden Augen erzählt sie von den Gerwani-Gründerinnen. Von ihrem Mann Suwandi, dem Vorsitzenden des Regionalbüros der Kommunistischen Partei Indonesiens (PKI) in Ostjava, den sie 1962 heiratete. Ob sie noch Fotos habe? Lestari lacht. „Fotos? Mädchen, ich bin froh, dass ich noch lebe. An Fotos hab ich zuallerletzt gedacht.“
Hintergründe des Putsch sind noch immer unklar
Indonesien war Mitte der 60er Jahre das Land, das nach China und der Sowjetunion die drittgrößte kommunistische Partei der Welt beheimatete. Die PKI hatte dreieinhalb Millionen Mitglieder. Historiker schätzen die Zahl der PKI-Unterstützer, zusammen mit Bauernverbänden, Gewerkschaften, Frauengruppen und künstlerischen Vereinigungen, auf etwa 20 Millionen – mehr als ein Fünftel der damaligen Bevölkerung. Kommunisten stellten Minister im Kabinett, sie hatten Verwaltungsposten auf allen Ebenen inne. Indonesiens Präsident Sukarno hatte sich in jener Zeit politisch zunehmend in Richtung China bewegt, sehr zur Sorge des Westens und ihm verbundener Teile des indonesischen Militärs.
In der Nacht zum 1. Oktober 1965 ereignete sich ein Putsch, dessen Hintergründe bis heute nicht vollständig aufgeklärt sind. Sechs Generäle und ein Leutnant wurden entführt und ermordet. Suharto, der prowestliche Vizechef der Armee, beschuldigte die kommunistische Partei, bot sich der Nation als „Retter vor der roten Gefahr“ an und veranlasste eine Hetzjagd auf Kommunisten – mit massiver Unterstützung der westlichen Welt, die nicht riskieren wollte, dass das an Ressourcen reiche Land „kippt“ und andere Länder mitreißt.
Zwischen 500.000 und einer Million vermeintlicher und tatsächlicher Kommunisten wurden in den folgenden Monaten ermordet. Hunderttausende landeten in Gefängnissen.
Sukarno wurde entmachtet, die PKI verboten. Dennoch strickte sein Nachfolger Suharto weiter an der Legende, dass Kommunisten jederzeit das Land gefährden könnten. Obwohl die Obduktionsberichte zu den Leichen der sieben ermordeten Militärs dafür keinerlei Beweise lieferten, verbreiteten Suharto-treue Medien den Mythos, dass Gerwani-Aktivistinnen den Toten die Augen ausgestochen und ihnen die Genitalien abgeschnitten hätten, bevor sie nackt um die Leichen herumgetanzt wären. Bis heute lässt sich diese Version der Geschichtsschreibung am Pancasila-Monument in Jakarta betrachten, wo sie auf riesigen Reliefs verewigt wurde.
Immer ein Exhäftling
Am Morgen des Putschtages, dem 1. Oktober 1965, klopft es auch an Lestaris Haustür. Sie flieht. Beinahe drei Jahre wird sie auf der Flucht sein. Ihre ältere, vierjährige Tochter verliert sie aus den Augen, bis heute fehlt von ihr jede Spur. Das zwei Monate alte Baby kommt in eine Pflegefamilie. Wie kam es schließlich zur Festnahme? Lestari hält inne, überlegt. Ihre dünne rechte Hand umklammert die Nase. Ihr Blick ist auf etwas gerichtet, das niemand sehen kann – die Erinnerung an das, wovon in der ostjavanischen Stadt Blitar heute noch ein martialisches Denkmal kündet. Die Operation Trisula, an der 5.000 Militärs und 3.000 Milizionäre beteiligt waren, sollte die letzten versprengten Kommunisten in Ostjava aufspüren.
Lestari flieht zur Küste. „Doch da“, ihr Blick geht nach oben, „da in den Hügeln, da standen sie.“ Die Soldaten eröffneten das Feuer, ein Mann wird direkt neben ihr erschossen. Lestari wird ins Frauengefängnis von Malang gebracht. „Ich hatte großes Glück“, sagt Lestari. „Mir haben sie keine Gewalt angetan.“
Ihre MitbewohnerInnen hatten weniger Glück. Im Gemeinschaftsraum, wo morgens genäht und gehäkelt, mittags am großen Tisch gegessen und abends gemeinsam ferngesehen wird, sitzen sie zusammen auf Stühlen und einem Sofa. Die heute 72 Jahre alte Journalistin Sri Sulistyawati kam ins berüchtigte Foltergefängnis Bukit Duri in Jakarta. Sie zeigt zwei Lücken in ihrem Gebiss. „Da haben sie die Stromkabel angelegt“, erzählt sie. Die 83-jährige Sri Suprapti Isnanto, auch eine ehemalige Gerwani-Aktivistin, berichtet von neun Jahren Haft in Medan und sagt: „Dort gab es keine Frau, die nicht vergewaltigt wurde.“
Ab Mitte der 70er Jahre kamen aufgrund wachsenden internationalen Drucks mehr und mehr Häftlinge frei. Lestari wurde 1979 entlassen. Doch das bedeutete noch lange nicht Freiheit. Ihr Haus war beschlagnahmt, in ihrem Ausweis prangte der Stempel „ET“ für „Ex-Tapol“, das heißt: ehemaliger politischer Häftling. Jobs, für die man offizielle Dokumente brauchte, kamen für Lestari deswegen nicht infrage. Sie wurde Hausangestellte in Surabaya, wo sie keiner kannte.
Wie Lestari hier sitzt, gebeugt, verrunzelt, sieht sie aus wie eine typische javanische Großmutter. Doch auf den Besuch ihrer Enkel zu warten hat sie aufgegeben. Ihre jüngste Tochter ist 46 Jahre alt. Einmal trafen sie sich und lagen sich weinend in den Armen. Kurz darauf klingelte das Telefon im Regal des Gemeinschaftsraums, der Mann der Tochter war dran. „Er hat Angst vor mir“, sagt Lestari. Doch es sei nicht schlimm, die Familie nicht zu sehen. „Ich bin froh zu wissen, dass es ihnen gut geht.“
Halbherzige Aufarbeitung
Im Mai 1998 trat Suharto zurück. 32 Jahre lang hatte er das Gespenst des Kommunismus beschworen und damit seine Herrschaft legitimiert. Erst jetzt konnten die Opfer von 1965 ihre Stimme erheben. Verbände formierten sich, kritische Bücher erschienen, zivilgesellschaftliche Gruppen initiierten Versöhnungsprojekte.
Doch die jahrzehntelange Indoktrinierung wirkt weiter. An Indonesiens Schulen wird noch immer mit den alten Geschichtsbüchern gearbeitet. Am Jahrestag der Ermordung der Generäle marschiert immer noch das Militär am Pancasila-Monument in Jakarta auf. Von einer systematischen Aufarbeitung ist Indonesien weit entfernt. Ein Bericht der Nationalen Menschenrechtskommission (Komnas HAM) soll belegen, dass indonesische Militärs im Zuge der Kommunistenverfolgung schwere Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Längst angekündigt, ist er dennoch noch nicht erschienen.
Lestari hat sich fein gemacht. Sie trägt einen schwarzen langen Rock, dazu eine schwarz-rot-weiße Bluse und einen lila Schal. Zusammen mit zwölf Männern und Frauen sitzt sie auf einem Podium. Die Menschenrechtsorganisation Kontras veranstaltet eine Pressekonferenz, in der das zögerliche Vorgehen der Menschenrechtskommission scharf kritisiert wird.
„Dass damals schwere Menschenrechtsverletzungen begangen wurden, ist wirklich nicht schwer zu beweisen“, sagt Kontras-Mitarbeiter Papang Hidayat. Wenn Präsident Susilo Bambang Yudhoyono die Vergangenheitsbewältigung ernst nähme, müsse er auch die Schuld seines eigenen Schwiegervaters beim Namen nennen, der 1965 als ranghoher Militär bei der Kommunistenverfolgung eine entscheidende Rolle gespielt habe. Die Kommission habe schlicht Angst, den Bericht zu verabschieden, sagt Papang. „Der Umgang mit 1965 ist die Messlatte dafür, wie demokratisch Indonesien geworden ist.“
Sehnsucht nach Ostjava
Lestari sagt kein Wort während der Pressekonferenz. Sie sitzt einfach da, ein schweigendes Symbol vergangenen Unrechts, und liest die Pressemitteilung. Ganz nah hält sie sich das Blatt vors Gesicht, langsam wandern ihre Augen über die Zeilen. Sie liest noch immer, als die anderen schon aufschauen in die klickenden Kameras der Journalisten. Sie ist hierhergekommen. Sie wird es wieder tun, wird dahin gehen, wohin sie gerufen wird. Dafür kämpfen, dass die Opfer von 1965 rehabilitiert werden und um aus ihrem Leben zu erzählen.
Doch eigentlich wäre sie gern woanders. „Was nützt es, wenn wir hier eine Versammlung nach der anderen abhalten?“, fragt sie, zurück in der Wohnküche ihres Hauses. „Ich will zurück nach Ostjava“, sagt sie und reckt energisch den Kopf nach vorn. Ihre Augen sind auf einmal wieder ganz wach. „Ich will mit den Leuten auf der Straße reden. Ihnen sagen, dass sie vor uns keine Angst haben müssen. Und mit ihnen darüber reden, was Demokratie wirklich heißt.“
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