Tatbestand Soziologie: Kommissar Google jagt Terroristen
Der Berliner Stadtsoziologe Andrej H. sitzt offenbar nur deshalb in U-Haft, weil die Polizei im Netz nach Schlagwörtern aus Bekennerschreiben fahndete.
BERLIN taz Das Ermittlungsverfahren, das vor drei Wochen zur Festnahme des Berliner Stadtsoziologen Andrej H. geführt hat, geht offenbar auf eine Internetrecherche des Bundeskriminalamts mit Hilfe des Suchportals Google zurück. Dies erklärte gestern in Berlin H.s Anwältin Christina Clemm, die erstmals Einsicht in die Ermittlungsakten nehmen konnte.
Clemm zufolge haben die Fahnder des BKA im Internet nach bestimmten Stichworten gesucht, die auch die "militante gruppe" in ihren Bekennerschreiben benutzt. Darunter seien Begriffe wie "Gentrification" oder "Prekarisierung". Da H. zu diesen Themen forsche, seien die Fahnder auf ihn aufmerksam geworden. "Das reichte für die Ermittlungsbehörden für eine fast einjährige Observation, für Videoüberwachung der Hauseingänge und Lauschangriff", so Clemm.
Der Soziologe H. war am 1. August wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in der "militanten gruppe" festgenommen worden. Er sitzt seitdem in einer Einzelzelle in der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Moabit. Einen Tag zuvor hatten Fahnder drei Männer in der Stadt Brandenburg bei dem Versuch festgenommen, einen Brandsatz unter Bundeswehr-Lkw zu legen.
Einen der Männer soll H. zweimal zuvor getroffen haben. Was bei diesem Treffen gesprochen wurde, geht nach Angaben der Anwältin aus den Akten nicht hervor. "Die wissen das schlicht nicht", sagt Clemm. "Gleichwohl wird da ein Tatverdacht konstruiert."
Die Tatsache, dass Texte kritischer Wissenschaftler unter Terrorverdacht geraten, sorgt auch in der deutschen und internationalen Wissenschaftsszene für Aufregung. "Ich finde den Vorwurf einer intellektuellen Täterschaft gespenstisch", sagte gestern der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann von der Berliner Humboldt-Universität, an der auch H. arbeitet.
Einen offenen Brief an Generalbundesanwältin Monika Harms, den Häußermann initiiert hat, haben inzwischen 2.000 Stadtforscher, Soziologen und Studenten unterschrieben. "Im Grunde steht jeder Wissenschaftler, der sich mit Themen wie Gentrification beschäftigt, mit einem Bein im Knast", sagte Häußermann. Dabei sei das Thema, die Aufwertung von Stadtvierteln für Besserverdienende, bereits seit den Achtzigerjahren Teil der soziologischen Forschung in Deutschland. In den USA gehört Gentrification ohnehin längst zum Standardvokabular.
Entsprechend sind auch die Kommentare US-amerikanischer Stadtforscher zu den Terrorismusvorwürfen in Deutschland. Die Soziologen Richard Sennett und Saskia Sassen sprechen von einem Vorgehen "nach Guantánamo-Art" (siehe Meinungsseite). Dutzende von Soziologen und Stadtforschern aus den USA haben sich inzwischen mit einem eigenen Brief an die Bundesanwaltschaft gewandt. Darin verwahren sich die Wissenschaftler "gegen den unglaublichen Vorwurf, die wissenschaftliche Tätigkeit und das politische Engagement sei als intellektuelle Mittäterschaft in einer angeblichen terroristischen Vereinigung zu bewerten".
Auch die Bundespolitik beschäftigt sich inzwischen mit der Terrorismusjagd via Google. "Dass Andrej H. Mitglied einer terroristischen Vereinigung sein soll, ist eine sehr windige Konstruktion durch die Bundesanwaltschaft", findet die grüne Fraktionschefin Renate Künast. Die Bundesanwaltschaft selbst wollte die Vorwürfe nicht kommentieren. Am Freitag wird ein Haftrichter in Karlsruhe darüber entscheiden, ob Andrej H. in Untersuchungshaft bleibt oder auf freien Fuß kommt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“