Streit um den Degenkampf: Die Schummelmedaille
Die Uhr ist im Degen-Finale nicht weitergelaufen. An die Frage, ob das in Ordnung sei, kann sich keiner erinnern. Nur die vielen Tränen der Verliererin bleiben im Kopf.
Eine junge Frau, ganz in weiß, sitzt am Bühnenrand. In der Hand hält sie einen Degen. Tränen fließen. Sie weint, sie heult. Schon eine halbe Stunde lang kann sie nicht an sich halten. Was ist passiert? Bisweilen blickt sie nach oben, schüttelt den Kopf.
Sie ist verzweifelt: Warum, warum, warum, scheint sie sich zu fragen. Steht sie gleich auf und hält dem Publikum, das längst angefangen hat, mit ihr zu leiden, einen Monolog? Brudermord? Vatermord? Der Liebste tot? War es Notwehr? War es für ein hehres Ziel? Was hat sie getan?
Es ist ein Drama, das die Zuschauer in der dunklen Fechthalle im Osten Londons gebannt verfolgen. Es wirkt inszeniert. Musik, die sich anhört als sei sie für den Tag, an dem die Königin (lang möge sie noch leben!) stirbt, komponiert worden, ein schwarzer Bühnenhintergrund, die Rampe, auf der die weiße Frau sitzt, leuchtet rot und grün Neonlicht.
Eine perfekte Inszenierung. Hat Robert Wilson, der gefeierte Design-Theater-Macher, ein neues seiner so perfekt durchinszenierten Werke für das IOC auf die Bühne gestellt? Oder ist alles, wie es sich für Olympia gehört, doch nur Sport? Eines ist gewiss. Ein Spiel ist es nicht. Die Tränen sind echt.
Ein großes Theater
Das Drama, das sich im Halbfinale der Degenwettbewerbs abgespielt hat, berührt die 8.000 Zuschauer. Die meisten von ihnen haben vor diesem Tag noch nie einen Fechtwettbewerb gesehen. Am Ende des Degenwettbewerbs wissen sie alles über diesen Sport.
Das Halbfinale, das Britta Heidemann, die deutsche Olympiasiegerin von Peking, so knapp gegen die Südkoreanerin Shin A Lam gewonnen hat, werden sie so schnell nicht vergessen. Es war großes Theater. In der regulären Kampfzeit war keine Entscheidung gefallen. Es gibt eine Minute Verlängerung. Der nächste Treffer entscheidet. Heidemann muss treffen, sonst hat Shin, der der Vorteil zugelost worden war, gewonnen. Sie bemüht sich. Eine Sekunde bleibt ihr. Sie greift an – vergeblich.
Die Uhr zeigt immer noch eine Sekunde Kampfzeit an. Auch der zweite Angriff ist vergebens. Aber immer noch sagt die Uhr, dass eine Sekunde zu kämpfen ist. Jetzt setzt Heidemann den Treffer. Sie jubelt, nachdem die Kampfrichterin sie zur Siegerin erklärt hat. Der Kampf ist zu Ende, das Theater beginnt.
Shin A Lam beginnt zu weinen, während Heidemann den Finaleinzug fiert. Der koreanische Coach kann nicht an sich halten. Er kann sich nicht vorstellen, wie es möglich sein soll, drei Angriffe innerhalb einer Sekunde zu starten. Die Kampfrichter beraten. Shin mag da nicht hinschauen. Noch steht sie, noch darf sie gar nicht gehen. Wenn sie jetzt die Halle verlässt, so sagen es die Regeln, hat sie die Niederlage akzeptiert.
„Es war ein klarer Treffer.“
Fast eine halbe Stunde dauert es, bis Heidemann nocheinmal zur Siegerin erklärt wird. Sie verlässt die Halle und gibt erste Interviews. Saucool präsentiert sie sich: „Es war ein klarer Treffer.“ Man müsse ans Reglement, die Zeitanzeige sei nur sekundengenau, das habe sie schon immer gestört. „Fechten ist einfach ein schneller Sport.“ Während sie das sagt feiert die deutsche Delegation die erste Medaille für das Team. Silber ist Heidemann ja sicher.
DOSB-Leistungssportdirektor Bernhard Schwank verkündet: „das ist ein echtes Signal, dass wir es können.“ Als er das sagt, ist noch lange nicht über den offiziellen Protest entschieden worden, den die Koreaner eingelegt haben. Shin A Lam sitzt immer noch auf der Bühne und weint.
Irgendwann kommt ein Mann in grünem Sakko auf sie zu. Er teilt ihr mit, dass der Protest abgewiesen worden ist. Sie steht auf. Das Publikum applaudiert. Standing Ovations. Der Protest ist abgewiesen. Was war? Der deutsche Chef de Mission Michael Vesper spricht von einer „Tatsachenentscheidung“, so als wäre er gedanklich immer noch bei der Fußball-EM. Für die Koreaner bleibt es ein Skandal.
Bei Heidemanns ersten beiden Attacken ist die Uhr nicht weitergelaufen, stellt sich dann heraus. Die Kampfrichterin soll dann die Fechterinnen gefragt, ob sie damit einverstanden seien, die Uhr bei einer Sekunde Restkampfzeit stehen zu lassen. Daran können sich hinterher beide nicht erinnern. Man wird noich lange diskutieren, was da eigentlich entschieden worden ist.
Dann der Epilog. Shin A Lam verliert den Kampf um Bronze gegen die Chinesin Yujie Sun und wird wie eine Siegerin vom Publikum verabschiedet. Britta Heidemann verliert das Finale gegen die Ukrainerin Jana Schemjakina und steht danach bedröppelt auf dem Podium. „Ich weiß, wie sich das anfühlt, wenn man da oben steht“, sagte sie. „Ich hätte es gerne noch einmal erlebt.“ Ein paar Meter weiter steht Shin A Lam. Immer noch verheult sagt sie: „Ich hätte gewinnen müssen. Das ist unfair.“ Für die Siegerin interessiert sich kaum jemand.
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