Polizeiprofiler war 2006 NSU auf der Spur: Deutsch, rechts, Serientäter
Es hätte die Wende sein können. Das Täterprofil eines Münchner Polizisten kam Böhnhardt und Mundlos 2006 extrem nah – bis auf ein folgenreiches Detail.
BERLIN taz | Es hätte die Wende sein können. Im Frühjahr 2006 entwickelte der Münchner Polizeiprofiler Alexander Horn „Alternativhypothesen“ zur Ceska-Mordserie an neun Migranten. Jahrelang hatten die Fahnder die Täter in der organisierten Kriminalität vermutet, vorzugsweise im Drogenmilieu.
Ihr falscher Verdacht gegen die Opfer: Diese könnten „in kriminelle Machenschaften verwickelt und wegen etwaiger Verfehlungen von einer unbekannten Organisation bestraft worden“ sein, wie es in einem Ermittlungsbericht hieß.
Die Theorie, die Polizeiprofiler Horn am 9. Mai 2006 dagegen vorlegte, kam der Wahrheit im Rückblick erschütternd nahe. In der Fallanalyse, die die taz auswerten konnte, wird vermutet: Der Täter ist deutsch, hat sich vor Beginn der Mordserie im Jahr 2000 in der rechten Szene bewegt, war damals zwischen 22 und 28 Jahre alt, hatte wohl einen Mittäter, lernte das Schießen in einem Schützenverein oder beim Militär und spielte womöglich am Computer Ego-Shooter.
Das Profil trifft fast perfekt auf die Terroristen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zu – die aber erst fünfeinhalb Jahre später aufflogen. Sind die Ermittler der Spur nach rechts nicht konsequent gefolgt? Hätte man ihnen auf die Schliche kommen können? Das sind die Fragen, die sich auch der Untersuchungsausschuss des Bundestags nun stellt, der kommende Woche in die heiße Phase startet.
Profiler Horn empfahl im Frühjahr 2006, nach einem ausländerfeindlichen Serientäter mit Kontakten zur rechten Szene zu suchen – allerdings mit einer im Nachhinein folgenreichen Einschränkung. Er und sein Team vermuteten, dass der oder die Täter ihren „Ankerpunkt“ in einem „infrastrukturell bekannten Umfeld“ haben müssten, wie es in einem späteren Bericht der Sonderkommission „BAO Bosporus“ heißt. Weil drei der Morde, darunter die ersten beiden, in Nürnberg geschahen, wurde dieser „Ankerpunkt“ dort vermutet. Genauer: im Südosten der Stadt.
Exbundesinnenminister Otto Schily (SPD) hat für Ermittlungspannen bei der Neonazi-Mordserie teilweise die Verantwortung übernommen.
„Dafür, dass wir der NSU-Terrorgruppe nicht früher auf die Spur gekommen sind, tragen ich und die Länderinnenminister die politische Verantwortung“, sagte Schily.
Es sei ein Fehler gewesen, am Tag nach dem Anschlag der NSU 2004 in Köln geäußert zu haben, es gebe keinen terroristischen Hintergrund. Schily hatte damals gesagt: „Die Erkenntnisse deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu.“
3.700 Schützenvereinsmitglieder durchrastert
In der Folge wurden zigtausende Daten des Einwohnermeldeamts durchrastert. 3.700 Mitglieder von Schützenvereinen in Nürnberg und Umgebung wurden überprüft. Gleichzeitig ließ sich die „BAO Bosporus“ vom bayerischen Verfassungsschutz eine Liste aller männlichen und weiblichen Rechtsextremisten aus Franken liefern, die zwischen 1960 und 1982 geboren sind.
Im Rückblick kamen die Ermittler dem NSU dadurch näher als bisher bekannt. Denn auf der Liste findet sich eine Frau, die von der Bundesanwaltschaft heute als NSU-Unterstützerin verdächtigt wird: Mandy S. Sie half dem Neonazitrio 1998 nach dessen Untertauchen, in Chemnitz unterzukommen, und gab Beate Zschäpe ihre AOK-Versichertenkarte. Einen gefälschten Tennisklubausweis mit S.s Namen und Zschäpes Foto fanden die Fahnder im Schutt des letzten NSU-Unterschlupfs in Zwickau. Ob man der heute 36-Jährigen noch nicht Verjährtes nachweisen kann, ist aber unklar. Von den Morden will sie nichts gewusst haben.
Fest steht: Mandy S. hatte Kontakte zur Neonaziszene in Franken, verteilte im Juli 2001 in Nürnberg Flyer. Von 2002 bis 2003 war sie in Mittelfranken gemeldet, bewegte sich im Umfeld der „Fränkischen Aktionsfront“ – und landete schließlich auf der Liste von Rechtsextremen, die der bayerische Verfassungsschutz den „Bosporus“-Ermittlern schickte – ohne Folgen.
Es ist nur eine von vielen Fährten, die zum NSU hätten führen können. Ein weiteres Beispiel: Im Jahr 2006 hatten die bayerischen Profiler ebenfalls empfohlen, einen Zusammenhang mit dem Anschlag in der Kölner Keupstraße im Juni 2004 zu prüfen. Dafür sprach in ihren Augen nicht nur, dass der Nagelbombenanschlag in einer Straße mit „eindeutig erkennbarem Schwerpunkt türkischer Geschäfte“ stattfand, sondern dass die „Kommandoaktion“ von zwei Männern mit Fahrrädern begangen wurde – in vier Fällen der Ceska-Mordserie hatten Zeugen Radfahrer am Tatort gesehen.
Zeugin sieht Ähnlichkeiten
Die Fahnder legten einer Zeugin, die beim Mord am Nürnberger Imbissbetreiber Ismail Yasar 2005 zwei Radfahrer beobachtet hatte, die Überwachungsbilder aus dem Kölner Anschlag vor. Diese „stellte bei Sichtung der Videoaufzeichnungen eine Ähnlichkeit bei der Körpergröße und dem Gesamterscheinungsbild fest“, heißt es in den Akten. Aber auch dadurch kamen die Ermittler einer Aufklärung nicht entscheidend näher.
Womöglich auch, weil ein anderes Polizeiteam die Spur wieder von der rechten Szene ablenkte – hin zu einer „kriminellen Gruppe“, die „durch eine archaische Norm- und Wertestruktur“ geprägt sei. So steht es in einer „operativen Fallanalyse“ des baden-württembergischen Landeskriminalamts von Januar 2007. Mit dieser kriminellen Gruppe, so die falsche Mutmaßung in dem Bericht, hätten die Opfer Kontakt gehabt und wegen eines wie auch immer gearteten Fehlers ihr eigenes Todesurteil herbeigeführt.
Auch in dieser Analyse wird von zwei männlichen Tätern ausgegangen. Sie wurden aber nicht in der rechten Szene vermutet, sondern als Teil einer Gruppe „im ost- bzw. südosteuropäischen Raum“ gesehen. Im Winter, so die Vermutung der baden-württembergischen Profiler, könnten sich die Mörder im Ausland aufhalten. Schließlich seien fast alle Taten in der Sommerhälfte vollstreckt worden.
Kurz darauf schlug das Killerkommando wieder zu: Am 25. April 2007 erschossen die deutschen Neonazis in Heilbronn ihr letztes Opfer, die Polizistin Michèle Kiesewetter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen