Fakten-Check zur Idee der Piraten: Der Traum vom Fahren ohne Fahrkarte
Ob Monatskarte oder Kurzstrecke - wer Bus oder Bahn fahren will, braucht ein Ticket. Die Berliner Piratenpartei will das ändern. Die BVG ist nicht abgeneigt.
BERLIN taz | Einsteigen in den Bus, ohne dass sich an der vorderen Tür eine Schlange bildet, weil alle nach ihrem Fahrschein kramen müssen. S-Bahn fahren, ohne auf eine Kontrolle zu treffen, die daran zweifelt, dass das City-Ticket der Deutschen Bahn hier gültig ist. Keine Debatte über das Ob und den Preis von Sozialtickets. Alle dürfen Bus und Bahn benutzen, ohne dafür Fahrkarten kaufen zu müssen.
Diese Idee geistert alle paar Jahre wieder durch die Stadt: Man nehme den öffentlichen Nahverkehr, schaffe die Ticketpflicht samt Automaten und Kontrolleuren ab, spare dadurch eine Menge Geld ein und mache die Beförderung für den Beförderten kostenlos. Zuletzt brachte die FDP die Idee in die Diskussion - vor zwei Jahren, als die S-Bahn akut am Boden lag. Ein Pilotprojekt sollte es sein, einen Monat lang, danach auszuwerten.
Nun ist eine Partei ins Abgeordnetenhaus eingezogen, die die Forderung nicht nur als Pilotprojekt umsetzen will: Einen "fahrscheinlosen Nahverkehr" fordern die Piraten in ihrem Wahlprogramm. Von "kostenlos" wollen sie explizit nicht sprechen, denn schließlich, so die Argumentation, verursache der Nahverkehr nicht auf einmal keine Kosten mehr, nur weil man die Fahrscheine abschafft.
Berliner und Berlin-Touristen sollen nach der Idee der Piratenpartei für den öffentlichen Nahverkehr zahlen - mit einer Steuer. Wer nach Berlin pendelt, wer privat für einige Tage in der Stadt übernachtet oder in der Stadt wohnt, aber hier nicht gemeldet ist, käme ums Zahlen herum. Laut Susanne Böhler-Baedeker vom Wuppertal Institut sollte die Partei an diesem Punkt noch mal nachbessern: "Eine Stadt mit einer hohen Einpendlerrate braucht einen regionalen Ausgleich."
Ein alternatives Modell gibt es in Frankreich: Hier können Kommunen den "versement transport", eine Transportsteuer, erheben. Zahlen müssen die Unternehmen, die Höhe der Steuer ist abhängig von der Lohnsumme. Das könnte sich auch Andreas Baum von der Piratenpartei vorstellen. Ihr Konzept wollen die Piraten noch ausarbeiten - wenn die Fraktion nach der konstituierenden Sitzung des Abgeordnetenhauses nächste Woche Donnerstag ihre Arbeit aufnimmt.
"Schon jetzt wird eine ganze Menge an Zuschüssen gezahlt", begründet der Fraktionsvorsitzende Andreas Baum die Idee. Es gehe einfach darum, dass die Fahrgäste die Möglichkeit hätten, ohne direkt zahlen zu müssen, von A nach B zu kommen.
Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) zeigen sich durchaus aufgeschlossen. Über die Fahrkarten würden jährlich zwischen 500 und 550 Millionen Euro eingenommen, sagt Sprecherin Petra Reetz. "Wenn wir das woandersher bekommen, ist uns das egal." Unklar sei aber, wie der Vorschlag im Detail umgesetzt werden solle. Woher kommt das Geld? Wie geht man mit Touristen um? Was ist mit Menschen, die in Brandenburg leben, aber nach Berlin zur Arbeit pendeln?
Touristen zahlen City-Tax
Darüber hat man sich bei den Piraten schon Gedanken gemacht. Es sollen keine Kindergärten geschlossen oder sozialen Projekten die Mittel gekürzt werden, um den Nahverkehr zu finanzieren. Vielmehr wollen die Piraten eine Steuer erheben, zu zahlen von Berlinern und von Touristen, bei Letzteren in Form einer City-Tax. "Der Preis wird natürlich weit unter einem Monatsticket liegen", erklärt Baum. Pendler dürften gratis fahren. Ausgerechnet habe man aber noch nichts.
Auch die BVG kann nur mit einigen Zahlen aufwarten. Die Verkehrsbetriebe hätten bereits intern über das Thema diskutiert, nachdem die Piraten es im Wahlkampf vorgebracht hätten, sagt Reetz. BVG-Schätzungen zufolge kämen auf Steuerzahler je um die 130 Euro pro Jahr zu. Die Frage sei, wer genau dann diese Steuer zahlen beziehungsweise ob und wie sie gestaffelt werden solle. "Man kann diese Diskussion führen, muss aber auch fragen: Wie hoch ist die Steuerkraft des Landes?"
Heidi Tischmann, Verkehrsreferenten vom Verkehrsclub Deutschland (VCD), sieht den Vorschlag der Piratenpartei kritischer. "Wir sind für Kostenwahrheit im Verkehr", sagt sie. Das heißt: Wer Kosten verursacht, soll sie auch tragen. Zwar sei das auch derzeit nicht der Fall, weil nicht nur die Nutzer der öffentlichen Nahverkehrs, sondern vor allem die Autofahrer längst nicht die Kosten für ihre Mobilität tragen. Doch eine Steuer für Bus und Bahn würde das Bild weiter verzerren.
Tischmann ist zudem skeptisch, ob signifikant weniger Autos auf den Straßen unterwegs wären. "Autofahrer sind ganz schwer aus ihren Autos herauszubekommen." Wissenschaftliche Untersuchungen würden zeigen, dass man den Verkehr einschränken müsse, um Autofahrer zum Umstieg auf den öffentlichen Nahverkehr zu bringen, mittels Parkraumbewirtschaftung zum Beispiel. Wer umsteige, habe sich vorher vor allem zu Fuß oder per Fahrrad durch die Stadt bewegt.
Nicht weniger Autos
Das zeigt auch das bundesweit einzige Beispiel, in dem eine Stadt den Versuch tatsächlich gewagt hat: Templin. Die 70 Kilometer nördlich von Berlin gelegene Kurstadt schaffte Ende der 90er Jahre Tickets in ihren Bussen ab. Untersuchungen zeigten, dass die Zahl der Fahrgäste daraufhin sprunghaft anstieg, die Zahl der Autos allerdings nicht merklich abnahm. Die Stadt hatte vor allem ihre Straßen im Zentrum von Autoverkehr entlasten wollen - dieses Ziel wurde nicht erreicht.
Allerdings machte der Versuch Templin bundesweit bekannt, Medien kamen, Touristen wurden aufmerksam. Die Zahl der Übernachtungsgäste stieg. Die fast 100.000 Euro für die wegfallenden Einnahmen erstattete die Stadtverwaltung nachträglich den Verkehrsbetrieben. Außerdem wurden die BürgerInnen einmal pro Jahr zu Spenden aufgefordert. Eine jährliche Abgabe für alle wurde diskutiert, es fehlte aber eine entsprechende Rechtsgrundlage. Der klamme Haushalt Templins setzte dem Projekt ein Ende: Mittlerweile ist die Fahrt nur noch für Touristen mit Kurkarte kostenlos.
BVG-Sprecherin Reetz vermutet, dass es auch in Berlin ohne Ticketpflicht mehr Fahrgäste geben würde. "Man bräuchte also mehr Fahrzeuge, die Kosten müsste man entsprechend hochrechnen." Wie viel Geld gespart werde, wenn Fahrkartenautomaten und Kontrollen abgebaut werden, ist Reetz zufolge unklar. Automaten seien ja eine einmalige Investition. "Das hat hier noch keiner ausgerechnet." Für Personal insgesamt geben die BVG pro Jahr etwa 500 Millionen Euro aus - von Fahrern über Ticketverkäufer bis zum Sicherheitspersonal. Reetz verweist darauf, dass Kontrolleure gleichzeitig für die Sicherheit zuständig seien. Sie berichtet von einen Feldversuch aus Seattle. Dort sei der Vandalismus in öffentlichen Verkehrsmitteln rasant angestiegen, nachdem diese für Fahrgäste kostenlos geworden waren.
"Man bräuchte auf alle Fälle eine Probephase", sagt Susanne Böhler-Baedeker von der Forschungsgruppe Energie-, Verkehrs- und Klimapolitik am Wuppertal Institut. In so einer Phase lasse sich auch klären, ob es Probleme mit Vandalismus gebe. Die Voraussetzungen für ein entsprechendes Modell seien jedoch in Berlin gut: Die Anzahl der Haushalte mit Auto sei niedrig, die Akzeptanz im Vergleich zu anderen Städten daher vermutlich hoch. "Und bei so einer Maßnahme ist eine breite Akzeptanz ganz wichtig."
Andreas Baum von den Piraten verweist darauf, dass man aktuell gar nicht kalkulieren könne, wie viel der öffentliche Nahverkehr koste - es fehlten Informationen darüber, was der Nahverkehr eigentlich koste und was die Gegenleistung dafür sei. Baum bezieht sich damit auf den Vertrag zwischen Senat und S-Bahn, der unter Verschluss gehalten wird. Möglicherweise gebe es in diesem Leistungskatalog Stellen, an denen man sparen könne. Dann ließe sich der Nahverkehr auch ohne großartige Mehrkosten für mehr Fahrgäste ausbauen, so die Überlegung der Piraten. Vom Land erhalten die Verkehrsbetriebe rund 250 Millionen Euro jährlich. Diese Mittel fließen in Infrastruktur, Wagen und Loks.
Vorbild Kleinstadt
Tischmann kann sich vorstellen, dass das Modell vor allem in kleinen oder mittleren Städten funktionieren könnte, gerade wenn der öffentliche Nahverkehr nicht ausgelastet ist. Die Praxis gibt ihr recht: Eine der wenigen Orte weltweit, in denen der öffentliche Nahverkehr fahrscheinlos angeboten wird, ist die belgische Kleinstadt Hasselt. Busse nehmen die 75.000 Einwohner seit fast 15 Jahren kostenfrei mit.
Die Idee kam dem damaligen Bürgermeister angesichts der täglichen Autostaus in der Innenstadt. Busfahren müsse für die Menschen kostenlos werden, sagte er sich - und schritt zur Tat. Das Ergebnis: Die Fahrgastzahlen explodierten. Statt zwei Buslinien wurden innerhalb weniger Jahre fast 50 eingerichtet. Zehn Jahre nach der Einführung hatte sich die Zahl der Fahrgäste auf 35 Millionen jährlich vervierzehnfacht. Autos müssen inzwischen außerhalb geparkt werden. Mit dem Effekt, dass die Busse schneller durchs Zentrum kommen. Die Kosten von etwa 1 Millionen Euro jährlich trägt in Hasselt allerdings die Stadt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste