Das Scheitern von Rot-Grün: Der unqualifizierte Abschluss
Nach dem Ende Aus von Rot-Grün hagelt es Vorwürfe. Doch auch vorher war man sich nie wirklich einig. Eine unvollständige Chronik.
Dienstag, 4. Oktober, 11 Uhr Rotes Rathaus: Entspannt sieht anders aus. SPD und Grüne treffen sich zur dritten Sondierungsrunde. Eigentlich hätten die Grünen am liebsten losgelegt mit den Koalitionsverhandlungen. Doch SPD-Chef Michael Müller hatte zuvor öffentlich an der Koalitionsbereitschaft der Grünen gezweifelt. Und erstmals die CDU als möglichen Koalitionspartner ins Spiel gebracht. Es sei zwar nicht das, was man anstrebe und wolle, aber es könne sein, "dass man auch zusammenarbeiten muss", sagte Müller im rbb. Später will Müller dies als "Wachrütteln" verstanden haben. Für die Grünen ist es eine Drohung. Das Bündnis, das die Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner will, steht auf des Messers Schneide.
Dienstag, 4. Oktober, 14 Uhr, Rotes Rathaus: Die Sondierung ist geschafft. Nun können die Koalitionsgespräche beginnen. Zum Erstaunen vieler Beobachter einigen sich beide Parteien auf einen Kompromiss zur Autobahn A 100.
Die SPD stimmt zu, mit den Verhandlungen über eine Umwidmung der 420 Millionen Euro für den Weiterbau zu warten, bis es nach den Wahlen im Bund 2013 eine neue Bundesregierung gibt. Falls sich auch die nicht erweichen lässt, "wird mit der Verlängerung der BAB 100 am Autobahndreieck Neukölln (qualifizierter Abschluss) begonnen". So steht es auf dem Papier. Mit diesem Kompromiss in letzter Minute sollen am Mittwoch die Koalitionsverhandlungen beginnen. "Die wussten offenbar nicht, was ein qualifizierter Abschluss ist", sagt Grünen-Chef Daniel Wesener später.
Dienstag, 4. Oktober, 19 Uhr, Kommandantenstraße: Der grüne Landesvorstand kommt nochmal zusammen, um die Kompromissformel zu besprechen. Die SPD ist nervös. Was sagt die grüne Basis? Was sagt die Parteilinke in Friedrichshain-Kreuzberg? Steht der Kompromiss?
Die Sozialdemokraten greifen zu ihren Handys. "Wir wollten wissen, was dabei herausgekommen ist", sagt später Michael Müller. Stattdessen Funkstille. "Nach der Sondierung waren die Grünen nicht mehr erreichbar". Für die SPD, heißt es, war damit klar, dass es bei der ersten Runde der Koalitionsverhandlungen am Mittwoch schwierig werden wird. Bis zum Zusammentreffen um elf Uhr seien die Grünen nicht erreichbar gewesen.
Grünen-Fraktionschef Volker Ratzmann wird den Vorwurf der Sozialdemokraten später zurückweisen: "Mich hat keiner auf dem Handy angerufen." Er habe das extra nochmal nachgeprüft. Überhaupt habe Klaus Wowereit ihn während der gesamten Verhandlungen nur ein einziges Mal angerufen.
Auch Fraktionssprecher Matthias Schröter ist verwundert: Es habe einen Anruf von Müller gegeben, der geklagt habe, dass er Grünen-Chef Wesener nicht erreicht habe. Weil der gerade nebenan auf dem Fahrrad gesessen habe, sei das Handy einfach weitergereicht worden.
Mittwoch, 5. Oktober, 11 Uhr, Rotes Rathaus: Endlich, Koalitionsverhandlungen. Kommt Rot-Grün doch noch zustande nach den vergeblichen Anläufen 2001 und 2006? Die Begrüßung ist freundlich, aber nüchtern. Auf der Stirnseite des Luise-Schröder-Saals nehmen Planungschef Björn Böhning, Michael Müller und Klaus Wowereit für die SPD Platz. Neben ihnen die Landesvorsitzenden Bettina Jarasch und Daniel Wesener sowie Volker Ratzmann für die Grünen: "Kurz darauf hat sich Ratzmann vom Präsidium entfernt und setzte sich zum Rest der Grünen", heißt es später bei der SPD. "Das war wie ein Signal: Hier sind wir, und dort seid ihr." Die Grünen sagen: "Das sind doch Nickeligkeiten."
Zu Beginn liest Müller nochmal den am Vortag getroffenen Formelkompromiss vor. "Wenn wir an der Stelle einen Haken gemacht hätten, wären wir drin gewesen in den Koalitionsverhandlungen", sagt Grünen-Chefin Jarasch später. Die SPD hat damit gerechnet. Weil am ersten Tag der Verhandlungen auch das Thema Finanzen auf der Tagesordung stand, hat Finanzsenator Ulrich Nußbaum einen langen Vortrag vorbereitet.
Doch die Grünen wollen noch nicht drin sein, nicht um jeden Preis. Zunächst wollen sie weitere Missverständnisse vermeiden. "Ich habe gefragt: Wisst ihr, was das bedeutet mit dem qualifizierten Abschluss?", erzählt Landeschef Wesener später. Und dann trug er vor, was er selbst darunter verstand: Keine Abrisse auf der Trasse bis 2014. Erst danach werde als "qualifizierter Abschluss" ein 900 Meter langes Teilstück zur Sonnenallee gebaut. SPD-Verkehrsexperte Christian Gaebler habe daraufhin gesagt, qualifizierter Abschluss sei das falsche Wort. Für Klaus Wowereit war das Fass endgültig übergelaufen.
Die SPD wertet Weseners Einwand als "erneute Interpretation eines Beschlusses" und nimmt eine Auszeit. "Da haben wir aus den Nachrichtenagenturen erfahren, dass Rot-Grün gescheitert sei", sagt Ratzmann. Die SPD dagegen behauptet, die Grünen hätten das Scheitern der Koalitionsverhandlungen während der Auszeit in die Welt gesetzt. Immerhin, die Nachricht stimmt. Rot-Grün ist beendet, bevor es überhaupt begonnen hat.
Mittwoch, 5. Oktober, 17 Uhr, SPD-Zentrale Müllerstraße: In den Sondierungen hatte Mark Rackles Klaus Wowereit Kompromisse abgerungen. Nun hat der SPD-Linke die Nase voll von den Grünen. "Es war klar, dass ein qualifizierter Abschluss den Bau der gesamten A 100 bedeutet", sagt er nach dem Scheitern der Koalitionsverhandlungen auf der Sitzung des SPD-Landesvorstands. Ausdrücklich billigt Rackles den Abbruch der Verhandlungen. "Die Grünen sind so nicht regierungsfähig." Überraschend deutlich folgen die knapp 40 Anwesenden dem Antrag, Verhandlungen mit der CDU aufzunehmen.
"Rackles hat sich sehr für Rot-Grün eingesetzt", sagt später Grünen-Chefin Bettina Jarasch. "Aber er hat immer nur versucht, uns zu überreden, in allem nachzugeben". Rackles hätte sich eher bei der eigenen Partei dafür stark machen sollen - etwa bei dem umstrittenen fünften Satz des ersten A100-Kompromisses.
Rückblick: Montag, 26. September, 17 Uhr, SPD-Zentrale: Der fünfte Satz stammt aus der Müllerstraße. Nach zwei Sondierungen mit den Grünen kommen die Genossen zu ihrer ersten Vorstandsitzung zusammen. Endlich erfährt auch die SPD-Basis, was die fünf Unterhändler mit den Grünen ausbaldowert haben. Mark Rackles hält einen Zettel hoch, auf dem vier Sätze stehen: "Das Projekt 16. Bauabschnitt der BAB 100 wird nicht grundsätzlich aufgegeben. Die Koalition setzt sich aber aktiv und ernsthaft dafür ein, dass die Umwidmung der Bundesmittel ermöglicht wird. Der Bau erfolgt nicht, wenn die investiven Bundesmittel in Infrastrukturmaßnahmen in Berlin umgewidmet werden können. Für den Bundesverkehrswegeplan 2015 wird ein zusätzliches Projekt angemeldet."
Auf Antrag von Klaus Wowereit fügt der Landesvorstand eigenmächtig einen fünften Satz hinzu: "Lässt sich eine Umwidmung der Bundesmittel nicht erreichen, steht die Koalition zum Weiterbau der A100." Auf der Senats-PK am Dienstag stellt Wowereit den Satz als Teil des Kompromisses dar. Eine Provokation.
Donnerstag, 29. September, 11 Uhr, Grünen Zentrale: Wowereits Coup hat die Grünen überrascht. Auf einer eilig einberufenen Pressekonferenz erklärt Volker Ratzmann, dass die SPD Punkt 5 in die Sondierungen eingebracht habe. Der sei von den Grünen aber abgelehnt worden. "Eine grüne Zustimmung zur A 100 wird es nicht geben", beteuert Ratzmann einmal mehr. Andersfalls droht der grüne Bürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg, Franz Schulz, mit Parteiaustritt. Spätestens da ist klar: Nicht alles, was als Kommpromiss gehandelt wird, wird von beiden Seiten auch gleich interpretiert.
Donnerstag, 6. Oktober, 9 Uhr, SPD-Zentrale: Michael Müller und Klaus Wowereit erklären auf einem Hintergrundgespräch, was sie von Rot-Schwarz erwarten. Dennoch sitzt den Sozialdemokraten das Scheitern von Rot-Grün im Nacken. Zwar habe sich Volker Ratzmann verzockt, heißt es in SPD-Kreisen. Dennoch seien er und Ko-Fraktionschefin Ramona Pop an Kompromissen interessiert gewesen. Anders dagegen die Landesvorsitzenden Jarasch und Wesener. Die hätten sich kein bisschen bewegt. "Überlegt doch mal, wer bei den Grünen vom Scheitern profitiert?", fragt ein SPD-Mann und meint den linken Parteiflügel der Grünen. Ein Gerücht geht um: Hat die grüne Spitze der Bundespartei Jarasch und Wesener den Rat gegeben, nach dem Einknicken der Hamburger Grünen in Moorburg und den pfälzischen Grünen bei der Hochmoselbrücke nicht ein weiteres Mal umzukippen?
Donnerstag, 6. Oktober, 11 Uhr, Abgeordnetenhaus: Die Grünen räumen ein, dass es unterschiedliche Lesarten des Kompromisses vom Vortag gegeben hat: "Aber wir hätten unseren Kopf auf den Tisch legen können", sagt Volker Ratzmann. Selbst wenn die Grünen dem Weiterbau der A100 zugestimmt hätten, "wäre es am Klimaschutzkraftwerk gescheitert". "Oder am Flughafen", ergänzt seine Kollegin Ramona Pop. Zuvor hieß es allerdings unter Sozialdemokraten: "Die hätten ihr Klimastadtwerk bekommen, auch wenn sie uns nicht erklären konnten, was das ist."
Auch die Grünen haben einen Schuldigen gefunden. Es ist - wenig überraschend - Wowereit. Nie habe er Rot-Grün wirklich gewollt. "Die SPD hat doch Probleme, die Mehrheit in den eigenen Reihen zu bekommen", heißt es bei den Grünen. Schon auf dem Parteitag hatte der grüne Finanzpolitiker Jochen Esser gesagt: "Ruhig wird es bei der SPD erst, wenn Wowereit gewählt ist".
Die knappe Mehrheit, war sie der Grund des Scheiterns? Klaus Wowereit weist den Vorwurf zurück. Er wäre das Risiko eingegangen. Klaus Wowereit muss aber viele Gerüchte zurückweisen. Eines lautet, er werde sich 2013 auf die Bundesebene verabschieden. Um die Übergabe des Staffelstabes an Michael Müller sicherzustellen, brauche es eine Mehrheit von mehr als nur einer Stimme. Mit der CDU.
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