Mediziner im Dienst der Stasi: Fragen Sie Ihren Arzt und Spitzel

Bis zu fünf Prozent der Mediziner in der DDR waren laut einer Studie Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit. Sie horchten Kollegen aus und verrieten intime Details ihrer Patienten.

Besonders viele Psychiater und Sportärzte spitzelten für die Stasi. Bild: ap

BERLIN taz In einem Bericht aus dem Jahr 1982, der sich in der Stasi-Akte V 874/77 findet, teilt IM "Irina", Fachärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten, der Staatssicherheit Intimes über eine ihrer Patientinnen mit: "Sie ist eine sog. 'Edelnutte', sehr attraktiv, tizianrotes Haar, große Ohrringe, trägt extravagante Kleidung, so z. B. zur Untersuchung ein weißes Strickkleid, goldene Schuhe und goldener Gürtel."

Auf 470 Seiten hat IM "Irina" private Details ihrer Patienten an die Stasi weitergeleitet - alles andere als ein Einzelfall. Die Historikerin Francesca Weil vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden hat mehr als drei Jahre lang die Stasi-Akten von rund 500 Ärztinnen und Ärzten ausgewertet, die in der DDR als IM tätig waren. Die Ergebnisse hat sie am Dienstag in Berlin vorgestellt.

Demnach hatten 35 Prozent der untersuchten Mediziner höhere Posten inne, waren Chefärzte oder Klinikdirektoren. Unter Psychiatern und Sportärzten befanden sich besonders viele IM. Die ersten IM unter den Medizinern wurden laut der Studie in den 50ern angeworben. Seit Anfang der 70er-Jahre knüpfte die Stasi systematisch ein Spitzelnetz in der Ärzteschaft.

Insgesamt lag der Anteil der IM unter den Ärzten nach Schätzungen bei drei bis fünf Prozent und war damit wesentlich höher als der Anteil in der Gesamtbevölkerung, der bei etwa einem Prozent lag. Laut Weil kann dies jedoch nicht als Beleg für eine besonders hohe ideologische Anfälligkeit der Ärzte gewertet werden. Es bestätige vielmehr, dass die DDR-Führung diese bildungsbürgerlich geprägte Berufsgruppe mit tradiertem Standesbewusstsein besonders kritisch beobachtete.

Aus diesem Grund seien die 500 untersuchten IM-Ärzte auch hauptsächlich auf ihre Kollegen angesetzt worden. Bereitwillig berichteten die Spitzel-Ärzte über "unklare Klassenstandpunkte" anderer Ärzte oder deren angebliche Absichten, die DDR zu verlassen.

Doch auch Patienten wurden ausspioniert und denunziert. Fast 30 Prozent der von Weil untersuchten IM-Ärzte brachen die Schweigepflicht. "Von Einzelfällen", schreibt die Historikerin "kann nach neuestem Kenntnisstand nicht mehr die Rede sein." Die von ihr untersuchten Ärzte berichteten "uneingeschränkt über gesundheitliche Probleme, persönliche Belange und politische Einstellungen von Patienten". Sie gaben Informationen über Suizidgedanken, Alkoholsucht oder ein auffälliges Verhalten ihrer Patienten weiter. So heißt es in der Akte des Psychologen IM "Dr. Borchert": "Der Patient befindet sich seit Oktober 1971 bei mir in ärztlicher Behandlung wegen 'Depressiver Neurose'. Ich vermute, dass er unsere DDR auf ungesetzlichem Weg verlassen will."

Die Motive für die Bespitzelung sind vielfältig: Einige Ärzte waren Überzeugungstäter und horchten bereitwillig die "Feinde des Sozialismus" aus. Andere wurden schlichtweg von der Stasi erpresst, indem sie ihnen wegen angeblichen Fehlverhaltens mit dem Verlust der Approbation drohte.

Die meisten IM-Ärzte aber zogen aus ihrer Spitzeltätigkeit beruflichen oder finanziellen Nutzen. Manche verlangten für ihre Spitzeltätigkeit Theaterkarten oder Plätze im Interhotel. Andere begnügten sich mit Fotoapparaten, Jagdwaffen, der schnelleren Lieferung ihres Autos oder 200 Ostmark Zusatzgehalt im Monat.

Viele der Spitzel-Ärzte blieben laut der Untersuchung nach der Wende unbehelligt und konnten mitunter lukrative Jobs finden. Manchen konnte es laut Weil in den 90er-Jahren gelingen, "durch die Übernahme bestimmter Ämter jahrelang gesundheitspolitische Entscheidungen mit zu treffen", ohne dass ihre Stasi-Vergangenheit je bekannt geworden sei. So auch IM "Irina", die Fachärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten. Nach Angaben von Weil betrieb sie zumindest bis vor zwei Jahren eine Praxis in Ostdeutschland.

Zur Aufklärung trägt die Historikerin jedoch nur einen ersten Schritt bei. In ihrer Untersuchung verwendet sie durchgehend die Decknamen der IM, auf die Nennung der wirklichen Namen verzichtet sie.

"Unser Interesse war nicht, schreckliche Einzelfälle in die Presse zu tragen", sagte Clemens Vollnhals, derzeitiger Leiter des Hannah-Arendt-Instituts. Es gehe um die Erforschung von Strukturen.

Auch Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer, die die Studie gefördert hat, beschränkte sich auf einen Appell an die Spitzel-Ärzte: Nun hätten die Täter die Gelegenheit, Reue zu zeigen.

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