Ausbeutung von Ärzten aus dem Ausland: Facharzt für lau
Menschen wie José Nicolas Morinigo arbeiten als "Stipendiat in der Weiterbildung zum Facharzt" - Vollzeit und fast ohne Lohn. Die Uniklinik Mainz verteidigt das Verhalten.
Die Telefonverbindung nach Asunción, Paraguay, ist schlecht, dazu die Zeitverschiebung - José Nicolas Morinigo klingt heiser und verschlafen. Ob er sich erinnern könne an seine Zeit an der Universitätsmedizin Mainz? Konkret an der Hals-Nasen-Ohren-Klinik? Plötzlich ist er hellwach. "Sie meinen bei Professor Mann?" José Nicolas Morinigo ruft den Namen in den Hörer, die Stimme überschlägt sich, und in ihr schwingt alles mit, was er für seinen ehemaligen Chef Wolf Mann, den Direktor der Mainzer HNO-Klinik, im fernen Deutschland empfindet: Dankbarkeit. Bewunderung. Ehrfurcht.
Dann gerät der HNO-Arzt aus Paraguay ins Schwärmen: Neue Operationstechniken habe er damals in Mainz erlernt dank Professor Mann, Behandlungsmethoden und Diagnoseverfahren, die in seiner Heimat bis dahin niemand gekannt habe. "Ich konnte mich als Arzt entfalten."
Im Gegenzug diagnostizierte, operierte, behandelte der Arzt José Nicolas Morinigo in Mainz - unentgeltlich: zwei volle Jahre lang, von Mai 2007 bis Mai 2009, 38 bis 40 Stunden pro Woche, Not- und Nachtdienste selbstverständlich, Jahresurlaub, immerhin: sechs Wochen. Die Uniklinik zahlte lediglich seine arbeitsrechtliche Haft- und Unfallversicherung sowie gelegentlich, wenn er beispielsweise Bereitschaftsdienste übernahm, ein so genanntes "Poolgeld". Über dessen Höhe schweigt sie. Ansonsten nahm sie Morinigos Arbeitskraft unbezahlt in Anspruch.
Wie das möglich ist? In Deutschland ganz legal: Offiziell beschäftigte die Uniklinik Morinigo als "Stipendiat in der Weiterbildung zum Facharzt" - vom Status her einem Assistenzarzt gleichgestellt, von der Bezahlung her keineswegs: Seinen Lebensunterhalt bestritt der Arzt selbst - dank eines Stipendiums eines privaten HNO-Zentrums in Asunción, Paraguay, an dem er zuvor ausgebildet worden war. Höhe: 900 Euro monatlich.
Zum Vergleich: Ein angestellter Assistenzarzt an der Uniklinik Mainz - das ist ein Arzt, der das Medizinstudium abgeschlossen hat und sich nun in vier bis sechs Jahren zum Facharzt weiterbildet - erhält nach dem "Tarifvertrag Ärzte" ein Monatsbruttogehalt zwischen 3.891 und 4.868 Euro. Fachärzte bekommen zwischen 5.136 und 6.158 Euro.
Uniklink Mainz profitiert davon
Was für ein Geschäft für die Uni-Klinik! Eine zusätzliche volle Arbeitskraft zum Nulltarif. Von den Arbeitsanforderungen und Tätigkeiten her nämlich, betont Morinigo stolz, sei er nach einer kurzen Einarbeitungszeit gleichgestellt gewesen mit den deutschen Fachärzten. Warum auch nicht? Schließlich war er ja bereits HNO-Facharzt, als er 2007, mit 35 Jahren, nach Deutschland kam, Facharzt nach der paraguayischen Berufsordnung jedenfalls. Die aber wird in Deutschland nicht anerkannt.
Und die Uniklinik Mainz hatte auch kein Interesse, an dieser Rechtslage etwas zu ändern. Schließlich profitiert sie davon. Schließlich ist ihr internationales Renommee so gewaltig, dass sie es sich sogar leisten kann, die Arbeitsbedingungen zu diktieren.
José Nicolas Morinigo ist kein Einzelfall: Seit 22 Jahren, schwärmt der HNO-Klinikdirektor Wolf Mann, halte er nun schon "die lange Tradition mit der Weiterbildung von ausländischen Fachärzten" in Mainz aufrecht. Und nie habe es Grund zur Beanstandung gegeben.
Tradition? Weiterbildung? Tatsächlich sorgen die unbezahlten ausländischen Fachkräfte dafür, dass der Mainzer Klinikbetrieb rund läuft. Dieser Eindruck jedenfalls entsteht, wenn Wolf Mann sein Personaltableau erläutert: "Wir haben 23 deutsche Ärzte und variabel zwischen vier und sieben Ausländer." Die Ausländer, fügt er hinzu, seien selbstverständlich "zusätzlich". Praktischerweise aber besäße jeder Zweite von ihnen bereits einen Facharzttitel und entsprechende Erfahrung aus dem Heimatland, so dass sie schnell in die Klinikroutine eingebunden werden könnten.
Die Stipendiaten würden sich direkt bei ihm bewerben, sagt Wolf Mann, und er prüfe dann bloß noch: "Passen sie in die Mannschaft? Sind sie Freitagnachmittags immer weg, weil sie zum Gebet gehen?" Wolf Mann findet: "Die müssen sich schon integrieren."
Ärztegewerkschaft nennt es "Wildwuchs"
Die Auserwählten blieben sodann zwischen zwei und zehn Jahren an seiner Klinik, dürften durchaus auch selbstständig operieren, vorausgesetzt, ein deutscher Facharzt sei dabei. Zwei bis zehn Jahre. Die HNO-Klinik, versichert Mann, sei in dieser Hinsicht übrigens kein Einzelfall. Auch in der Anästhesie, der Urologie, der Kinderchirurgie, der Augenklinik und der Gynäkologie würden ausländische Gastärzte mit Stipendium eingesetzt, nach Angaben des Uniklinik-Vorstands derzeit jedoch nicht. "Ein Geben und Nehmen", nennt Wolf Mann diese Praxis.
"Wildwuchs" nennt sie der Marburger Bund, die Gewerkschaft der angestellten und beamteten Ärzte, "Wildwuchs, gegen den wir jedoch machtlos sind, solange sich keiner der Beteiligten beschwert". Und solange ihn keiner kontrolliert. Das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung in Mainz, also die Behörde, die ausländischen Ärztinnen und Ärzten die Erlaubnis erteilt, ihren Beruf in Rheinland-Pfalz auszuüben, zieht sich auf die Position zurück, mit der Bezahlung dieser Ärzte nichts zu tun zu haben: "Die Vergütung der Ärztinnen und Ärzte ist Angelegenheit der jeweiligen Universitätsklinik."
Auf die Frage, ob das Landesamt es für problematisch halte, dass ausländische Ärzte für 900 Euro die gleiche Arbeit wie tarifvergütete Assistenzärzte verrichten, antwortet das Landesamt: "Die ausländischen Ärztinnen und Ärzte erklären vorher schriftlich, dass ihr Lebensunterhalt […] durch entsprechende finanzielle Mittel sichergestellt ist." Eine darüber hinaus gehende Fürsorgepflicht gegenüber den Stipendiaten kann das Landesamt nicht erkennen: "Die Vergütung fällt insoweit in den Zuständigkeitsbereich des Stipendiengebers sowie des Arbeitgebers."
Wie viele voll ausgebildete ausländische Ärzte an deutschen Uni-Kliniken insgesamt als Stipendiaten Vollzeitjobs machen, wird nirgends zentral erfasst - meist liegt es am Engagement einzelner Professoren, ob und wie viele Ärzte beschäftigt werden. Ihre Berufs- und Aufenthaltserlaubnis ist verknüpft mit dem Stipendiatenvertrag der Universitätsmedizin, was weitere Abhängigkeiten schafft: Quittieren sie den Job, müssen sie das Land verlassen.
"Die Ärzte können jederzeit verschwinden"
Im Fall von José Nicolas Morinigo sah das Geben und Nehmen in der Praxis so aus, dass der Arzt aus Paraguay ohne die zusätzliche finanzielle Unterstützung von Freunden aus Deutschland wohl kaum zwei Jahre durchgehalten hätte: Von seinen 900 Euro Stipendium allein jedenfalls hätte er in Mainz kaum seine Ausgaben für Wohnung, Essen, Kleidung, Kranken- und Rentenversicherung bestreiten können.
Der Kaufmännische Vorstand der Universitätsmedizin Mainz, Norbert Finke, beteuert: "Wir achten darauf, dass die Höhe des Stipendiums angemessen ist." Allerdings: "Da die Höhe der Stipendiengelder unterschiedlich ist, ist kein genereller Vergleich mit dem Gehalt der an der Universitätsmedizin angestellten Ärzte möglich." Wolf Mann sagt: "Wenn sich die Ärzte ausgebeutet fühlen würden, würden sie weggehen. Sie können jederzeit verschwinden."
Das freilich tue niemand, der es einmal nach Mainz geschafft habe, versichert die ehemalige Stipendiatin Oxana Selivanova, heute 37 Jahre alt und eine der wenigen, die den Sprung geschafft und 2009, nach zehnjährigem Stipendiatentum, eine eigene HNO-Praxis in Deutschland eröffnet hat: "Ich habe den Weg selbst gewählt. Als ich 1999 aus Russland nach Deutschland kam, war ich eigentlich schon HNO-Fachärztin. Aber ich wusste, dass ich als Stipendiatin bei Professor Mann Dinge erfahren würde über Erkrankungen wie beispielsweise Tinnitus, mit denen in Russland damals niemand umzugehen wusste."
Kennengelernt hatte sie Wolf Mann während eines Kongresses in Russland. "Er ist dort sehr berühmt. Die führenden russischen Professoren im Hals-Nasen-Ohren-Bereich wurden von ihm ausgebildet." Ihm und der Uniklinik vorzuwerfen, Talente auszunutzen? "Aber warum denn", sagt Oxana Selivanova.
Ärztekammer fordert gleichen Lohn für gleiche Arbeit
Die Lehrjahre in Mainz zahlten sich spätestens bei der Rückkehr ins Heimatland für die ausländischen Ärzte aus, sagt auch Wolf Mann: "Einer der von mir Ausgebildeten ist Dekan in Tripolis. Ein anderer ist jetzt der beste Arzt von Russland, Direktor des Präsidentenadministrationskrankenhauses. Die verdienen dann viel Geld, wahrscheinlich besser als ich."
Die Gastärzte hätten einen weiteren Vorteil. Wenn sie sich anstrengten, sagt Mann, hätten sie die Möglichkeit, vor der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz die deutsche Facharztprüfung abzulegen. "Das ist ja der Sinn ihres Aufenthaltes in der Universitätsmedizin", beteuert deren Vorstand Norbert Finke.
Wirklich? Wie viele ausländische Gastärzte pro Jahr ihre Facharztprüfung bestehen, wird von der Landesärztekammer gar nicht erfasst: Die Statistik unterscheidet nicht zwischen Stipendiaten und regulär bezahlten Assistenzärzten. In der Praxis aber scheitern viele der ausländischen Stipendiaten bereits an der Vorbedingung für die Prüfung. Die hat die Landesärztekammer in ihrer Berufsordnung festgeschrieben, um Selbstausbeutung und Dumpinglöhnen in der fachärztlichen Ausbildung entgegenzuwirken: "Die Facharztprüfung ist nur möglich, wenn die Stipendiaten nachweisen können, dass die Weiterbildungszeit angemessen vergütet wurde", sagt eine Kammer-Sprecherin.
Für angemessen halte die Kammer je nach Lebensalter und Familienstatus eine monatliche Honorierung zwischen 2.100 und 2.700 Euro. "Wir finden nicht kollegial, was in Mainz geschieht", sagt die Sprecherin. "Wir finden, gleiche Arbeit müsste gleicher Lohn bedeuten."
José Nicolas Morinigo ist ohne deutschen Facharzttitel nach Paraguay zurückgekehrt, aber das mache nichts, sagt er. Er muss das Telefongespräch beenden, er hat jetzt zwei Jobs, am privaten HNO-Zentrum sowie an der Uniklinik von Asunción. Er ist ein gefragter Mann.
Er sagt: "Mainz kann ich nur empfehlen."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Plan für Negativ-Emissionen
CO2-Entnahme ganz bald, fest versprochen!
Human Rights Watch zum Krieg in Gaza
Die zweite Zwangsvertreibung