Nach dem Raubüberfall in Sittensen: Die fragwürdige Notwehr
Bei einem Raubüberfall erschießt ein Rentner einen der jugendlichen Täter auf der Flucht. Notwehr, sagt die Staatsanwaltschaft - und will die Ermittlungen einstellen.
NEUMÜNSTER UND SITTENSEN taz | In der frostigen Winternacht des 13. Dezember 2010 steigt der 16-jährige Labinot S. um 21.45 Uhr in die Villa eines Rentners ein, um Geld zu klauen. Minuten später liegt er tot im Schnee.
Schuss in den Rücken. Abgefeuert von Ernst B., dem überfallenen Rentner, 77 Jahre. Aus zwei Metern Entfernung. Labinot S. war schon auf der Flucht.
Sie waren fünf maskierte Jungs an diesem Abend, der Rentner allein zu Hause. Den Tipp mit der Villa im niedersächsischen Sittensen hatten sie aus dem Rotlichtmilieu. Dort verkehrt Ernst B. oft, eine Prostituierte lädt er wiederholt zu sich ein, schenkt ihr einen Mercedes-Coupé und Schönheitsoperationen. Ihre Freundin erzählt den Jungs von Millionen, die in der Villa lagern sollen.
Als Ernst B. an diesem 13. Dezember in den Garten geht, um den Hund zu füttern, greifen sie ihn, zerren ihn ins Haus zurück. Labinot und ein anderer halten ihn auf einem Stuhl fest, die anderen drei suchen nach dem Safe und den vermeintlichen Millionen. Plötzlich schrillt die Alarmanlage. Die Jungs bekommen Panik.
Sie rennen los, sie fliehen über die Terrasse nach draußen in die Kälte. Dann fällt ein Schuss. Ein zweiter. Beim dritten ein Schrei. Labinot ist zwischen den Schultern getroffen, das Projektil fliegt direkt durch seine Hauptschlagader.
Labinot S. verblutet innerhalb weniger Minuten.
So steht es in den Prozessakten. Ein halbes Jahr später kann seine Familie diese Tragödie noch immer nicht fassen. Zu acht sitzen sie in der Dreizimmerwohnung eines flachen Backsteinbaus in Neumünster in Schleswig-Holstein. Onkels, die Tante, die Eltern, die drei übrigen Kinder.
Kaffee und Kuchen stehen auf dem Tisch, in der Ecke ein raumhoher Zitronenbaum aus Plastik, auf dem großen Flachbild des Fernsehers gewinnt Sebastian Vettel gerade sein sechstes Formel 1-Rennen in dieser Saison. Keiner schaut hin.
Die Stimmung ist gedrückt in diesem Wohnzimmer. Die Mutter weint, die Augen des Vaters sind feucht, auf einer Ablage stehen Fotos vom verlorenen Sohn. Labinot allein, lachend, kurzgeschorene Haare. Labinot mit anderen Jungs, rauchend auf einer Parkbank. "Das sind seine richtigen Freunde", sagt Naser Mirena. Er ist der Onkel, mit seinen 53 Jahren der Familienälteste hier.
Bestrafen, nicht töten
Er ist es, der das Wort ergreift. Labinot sei so jung gewesen, ja, er habe die falschen Freunde gehabt, er habe Fehler gemacht, er hätte bestraft werden sollen. Aber doch nicht getötet! "So viele Jugendliche machen Mist, sollen wir die alle erschießen? Schlimm, sowas." Das sagt er oft an diesem Sonntagnachmittag, immer dann, wenn ihm die Worte fehlen. "Schlimm, sowas." Er holt mit den Armen weit aus beim Reden, sein blaues Hemd und seine Lederweste wölben sich eng über seinen Bauch.
Die Staatsanwaltschaft hatte nach diesem Dezemberabend sofort ihre Ermittlungen aufgenommen. Gegen die vier übrigen Jugendlichen wegen Verdachts des schweren Raubes. Gegen den Rentner Ernst B. wegen Verdachts des Totschlags. Die Jugendlichen werden angeklagt, seit vier Wochen müssen sie sich vor dem Landgericht in Stade verantworten. Doch die Ermittlungen gegen den Rentner wird die Staatsanwaltschaft nach eigener Aussage wohl in den nächsten Tagen fallen lassen. Ernst B. habe aus Notwehr gehandelt, sagt sie.
Ist es Notwehr, wenn man jemandem in den Rücken schießt? Wenn der Täter bereits auf der Flucht ist? "Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden", sagt das Strafgesetzbuch, § 32, Absatz 2. Der Angriff der Jugendlichen war zum Zeitpunkt der Schüsse schon vorbei.
Für Thomas Kämmer, den Rechtsbeistand der Familie, wäre die Einstellung der Ermittlungen gegen den Rentner eine fatale Botschaft. "Das sagt doch: Wenn ihr überfallen werdet auf eurem Grundstück, dürft ihr den Täter erschießen." Selbstjustiz also, nach amerikanischem Vorbild?
Ernst B. ist Jäger, besitzt mehrere Waffen. Die, zu der er in der Tatnacht griff, lag geladen in seiner Nähe. Er will aber laut eigener Aussage bei der Polizei Schüsse gehört haben, bevor er selbst schoss. "Jedenfalls fiel dann ein Schuss und ich habe gedacht, jetzt wird es ganz gefährlich und jetzt kannst du auch zur Waffe greifen", steht im Protokoll.
Es ist die entscheidende Frage in dieser Justizgeschichte, bei der die Grenzen zwischen Opfer und Täter verschwimmen: Waren die Jugendlichen bewaffnet, haben sie geschossen? Nein, sagen alle vier einvernehmlich. Sie hätten die Softair-Pistole, die sie in der Nacht bei sich hatten, im Handschuhfach gelassen. Auf der Autofahrt zurück hätten sie sie aus dem Fenster geschmissen.
Die zweite Pistole
Die Beamten vor Ort stellen jedoch nicht nur die Softair-Pistole sicher. Eine geschlagene Woche später finden sie noch eine andere, eine Gaspistole, in Terrassennähe, dort, wo die Leiche lag. Patronenhülsen finden sie nicht. Die Gaspistole, die auf den Namen des Rentners angemeldet ist, sei wegen des Schnees zunächst nicht gesehen worden, sagt Kai Thomas Breas, Sprecher der Staatsanwaltschaft Stade. Er schließt nicht aus, dass sich Labinot S. bei der Flucht die Waffe geschnappt und geschossen hat.
Ein Gutachten, das der taz vorliegt, spricht gegen diese These. Es bescheinigt, dass die Fasern der Wollhandschuhe, die Labinot S. in der Tatnacht getragen hat, nicht mit den Fasern auf der Gaspistole übereinstimmen. Rechtsbeistand Thomas Kämmer findet den späten Fund der Gaspistole seltsam. "Ich kann mir auch vorstellen, dass sie im Nachhinein dort hingelegt wurde."
Im Prozess gegen die Jugendlichen will der Rentner keine Aussage machen, was ihn in den Augen von Kämmer verdächtig macht. Da er schweigt, sei es noch schwerer nachzuweisen, dass vor der Tat überhaupt Schüsse gefallen sind, sagt er.
Kämmer fordert, dass auch gegen den Rentner Anklage erhoben wird. "Ich will nicht unbedingt die Höchststrafe, ich will lediglich ein faires Verfahren." Zur Not würde der Jurist, der spezialisiert ist auf die Unterstützung von Verbrechensopfern, ein Klageerzwingungsverfahren anstreben - und gegen Niedersachsens Justizminister Bernd Busemann (CDU) einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss fordern. Busemann, ein Selbstjustizminister, so ein Signal an die Gesellschaft könne dieser doch nicht senden wollen.
Onkel Mirena sitzt in einem der zwei Autos, mit denen die Familie S. an diesem Sonntagnachmittag über die Autobahn düst. Sie fahren durch den Hamburger Elbtunnel, vorbei am Containerhafen, nach Niedersachsen. Sie fahren nach Sittensen, an die Stelle, wo Labinot getötet wurde. Ob Mirena sich erklären kann, warum sein Neffe in die Villa einbrechen und das Geld klauen wollte? "Das war kein Klauen", sagt der Onkel. "Lab hat einfach nur mitgemacht."
Wie wird er reagieren, falls es nicht zu einem Prozess gegen Ernst B. kommt? "Wenn die Justiz versagt, dann mache ich auch Selbstjustiz." Was meint er damit? "Das werden wir dann sehen." Von Blutrache, wie sie in seinem Heimatland Kosovo vor allem in ländlichen Gegenden noch heute üblich sei, rede er jedenfalls nicht, sagt er. "Keine Angst." Die Familie war Anfang der 90er Jahre während des Balkan-Krieges aus dem albanischen Kosovo geflohen. Die Kinder sind alle in Deutschland geboren.
Naser Mirena sagt, er kontrolliere seine Kinder jetzt noch strenger als vorher. Wo gehen sie hin? Mit wem? Wann kommen sie wieder? Die Freunde müssen sich bei ihm vorstellen, er sagt, er kann innerhalb von Minuten entscheiden, ob ein Mensch gut ist oder schlecht.
Es wirkt wie die Bankrotterklärung eines Mannes, der für ein altes patriarchalisches System steht. Der es gewohnt ist, von der jungen Generation respektiert zu werden. Labinot, mit einem Hauptschulabschluss auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz, hatte sich abgeschottet in den letzten Monaten, von seinen Eltern, seinem Onkel und seinen Brüdern, mit denen er sich das Zimmer teilte.
Er wurde zwar bei der Kripo Neumünster nicht als Intensivtäter geführt, wie unter anderem die Bild schrieb. Doch der Polizei ist er durch Prügeleien und zu schnelle Fahrten mit dem Mofa aufgefallen. Es folgten Sozialstunden im Tier- und Altersheim. Nun liegt er im Kosovo begraben.
Rasen frisch gemäht
Die zwei Autos fahren durch Sittensen hindurch, bis an den Ortsrand. Bei der letzten reetgedeckten Villa machen sie Halt. Es ist ruhig hier, der Rasen frisch gemäht, die Nachmittagssonne spiegelt sich im Gartenteich, Vögel zwitschern.
Hier wohnt Ernst B., und hier ist Labinot S. gestorben. Etwa einmal pro Woche, nach jedem Prozesstag, kommt seine Familie hierher und errichtet direkt neben dem Grundstück eine Gedenkstätte. Sie befestigen ein Foto an einen Baum, drapieren Kunstblumen und Grabkerzen drum herum.
"Opa soll seine Tat immer vor Augen haben", sagt Mirena. Mit "Opa" meint er Ernst B., er nennt ihn immer so. Jedes Mal, wenn sie zum Trauern hierher kommen, ist ihre Gedenkstätte beschädigt. Heute ist es das gerahmte, an einem Baum befestigte Foto, das zerplittert ist. Glasscherben liegen auf der Erde, ein Blumengesteck finden sie auf der anderen Straßenseite.
Im Haus des Rentners regt sich nichts. Ein Bauer fährt im Traktor vorbei und guckt. Eine neugierige Nachbarin läuft am Straßenrand entlang, drei Polizeiwagen kommen angerollt. Jede Andacht muss Familie S. bei der örtlichen Polizei anmelden. Es war ziemlich viel Aufregung in den letzten Monaten für dieses dörfliche Sittensen. "Aber wir werden nicht aufhören, herzukommen", sagt Onkel Mirena. "Opa soll diesen 13. Dezember nie vergessen."
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