Stéphane Hessel über sein neues Buch: "Am Ende ist die Hoffnung stärker"
Empört Euch! Die Schrift des Stéphane Hessel hat Frankreich bewegt, nun erscheint sie auf Deutsch. Ein Gespräch über Protestkultur, Lösungen und Leidenschaft.
taz: Ihr kleines Buch "Empört euch!" wurde in Frankreich seit Herbst über eine Million Mal verkauft. Wie erklären Sie sich diesen unglaublichen Erfolg?
Stéphane Hessel: Als dieses Büchlein letzten Herbst entstand, begann man in Frankreich gerade über die Präsidentenwahlen 2012 zu diskutieren. Ich wollte in diesem Zusammenhang sagen, dass es Grundwerte gibt, auf die man bestehen muss. Das wurde dann wie ein Appell aufgenommen.
Sie haben damit offene Türen eingerannt, in einem Land, in dem traditionell eine große politische Protestkultur existiert.
Es scheint so. Es gibt viele Demonstrationen wie die gegen die Rentenreform vom letzten Herbst. Doch die Fragen der Wirtschaftsordnung oder der Ökologie als Gesamtes werden dabei kaum in Betracht gezogen. Auch in Frankreich wird die Regierung einseitig von Wirtschafts- und Finanzmächten geleitet, und es vergrößert sich die Kluft zwischen Arm und Reich.
Ihr Buch ist bereits in achtzehn Ländern erschienen.
Sogar in Japan! Das heißt, auch in Japan fragen sich die Leute, wie wir regiert werden, wie sich die Welt organisiert, und ob wir genug zum Erhaltung unseres Planeten tun.
STéPHANE HESSEL Deutsch-Franzose: geb. 1917 in Berlin. Vater: Franz Hessel (Schriftsteller und Lektor), Mutter: Helene Grund (Journalistin und Übersetzerin). Als Siebenjähriger Übersiedlung nach Frankreich, seit 1937 französischer Staatsbürger.
Widerstandskämpfer: 1941 Flucht aus einem Gefangenenlager, Beitritt zur Widerstandsbewegung unter General de Gaulle. 1944 von der Gestapo verhaftet. Zum Tode verurteilt und im KZ.
Diplomat: Als UNO-Diplomat war er an der Redaktion der Universellen Menschenrechtserklärung von 1948 beteiligt. Stéphane Hessel lebt heute in Paris. "Empört euch!" ist diese Woche auf Deutsch bei Ullstein erschienen.
Nun wirft man Ihnen vor, dass Sie zwar Probleme aufzeigen, aber keine Lösungen haben?
Mein Aufruf will ja nur ein Anstoß sein, keine Gebrauchsanweisung. Natürlich soll man nicht in der Empörung verharren, sondern weitergehen, damit etwas Positives herausschaut. Ich erwähne deswegen gern Edgar Morins "Der Weg" und Susan Georges "Eure Krise, unsere Antworten". Aber auch Stiglitz, von Weizsäcker, Habermas oder Amartya Sen. Ich benenne Probleme der Menschheit, ohne zu sagen, wie sie gelöst werden. Aber ich sage auch, dass wir direkt auf die Mauer zugehen, wenn diese jetzt von den Regierungen und internationalen Organisationen nicht angepackt werden. Wir können nicht einfach so wie die letzten zwei Jahrhunderte weitermachen nach der Devise "Immer mehr und mehr", sonst ist es vielleicht aus für uns in fünfzig Jahren. Wer dies erkennt, muss sich als Weltbürger empören. Das ist die einzige Botschaft dieses Büchleins.
Das klingt etwas apokalyptisch.
Die letzten zehn Jahre des 20. Jahrhunderts schufen nach dem Mauerfall mit den großen UNO-Gipfelkonferenzen von Rio, Kopenhagen oder Peking und dann mit der Definition der Millenniumsziele eine immense Erwartung. Die zehn ersten Jahre des 21. Jahrhunderts aber brachten nach der Attacke auf die Twin Towers Rückschritte mit Kriegen wie im Irak und in Afghanistan und sehr wenige Fortschritte. Das waren zehn verlorene Jahre. Jetzt muss man auf die Millenniumsziele erneut zurückkommen, ebenso wie auf die Grundwerte der Menschenrechtserklärung und in Frankreich auf das Programm des Nationalen Widerstandrats von 1945.
Woher nehmen Sie hier Ihre Leidenschaft, Ihre Zuversicht?
Es gibt in der Geschichte immer wieder Rückschläge. Doch meiner Überzeugung nach ist die Hoffnung am Ende stärker als die Schwierigkeit. Ein langes Leben genügt, um zu erfahren, dass das Schlimme überwunden werden kann.
Sie beziehen sich da auf Ihre persönliche Erfahrung?
Ja. Ich war als französischer Soldat zuerst Kriegsgefangener und konnte fliehen, ich ging dann zu de Gaulle nach London und kam 1944 als Verbindungsmann zur Résistance nach Frankreich. Ich wurde von der Gestapo verhaftet und sollte eigentlich gehängt werden. Ich verdanke mein Überleben dem Deutschen Eugen Kogon und einem SS-Arzt, die mir und zwei Engländern die Identität von drei an Typhus gestorben Mitgefangenen verschafften. Als dann der Befehl kam, uns zu erschießen, hieß es: Der Hessel ist schon tot! Nachher wurde ich mit meinem falschen Namen ins Lager Dora transportiert und hatte das Glück, dort im Strafkommando und nicht im Tunnel arbeiten zu müssen, wo die wenigsten zwei Monate überlebt haben. Schließlich sollte ich noch nach Bergen-Belsen gebracht werden, aber ich konnte vom Zug abspringen und landete bei den Amerikanern. Das heißt, lauter glückliche Wendungen, trotz aller Gefahren. Wenig später wurde ich nach New York zu den Vereinten Nationen berufen.
Sie sagen vorab den Jungen, sie sollen sich engagieren. Wo aber sind die großen Utopien, für die sie sich begeistern könnten?
Wir haben im letzten Jahrhundert viele Utopien erlebt, die schlimm ausgegangen sind, insbesondere die kommunistische Utopie. Die Begeisterung für die Oktoberrevolution war in Europa enorm. Man hat so viel erwartet, und dann kam es so anders. Und auf der anderen Seite der Faschismus. Die Begeisterung birgt Gefahren. Ich rufe nicht zur Revolte, sondern zu einem Aufstand der Friedfertigkeit. Nicht Gewalt ist die Lösung, sondern Gewaltlosigkeit. Das ist die Lektion der großen Revolutionen.
Ihr Vater ist jüdischer Herkunft. Sie selbst empören sich über Israels Politik gegenüber den Palästinensern. Sie werden dafür auch stark kritisiert. Was sagen Sie dazu?
Die israelische Regierung und Kriegsführung kritiklos zu unterstützen, ist für die Juden selbst gefährlich. Die Regierung von Netanjahu und Liebermann zu unterstützen, leistet eher einem neuen Antisemitismus Vorschub, den ich als sehr schmerzlich empfinde.
Tragen Sie durch die Unterstützung von Boykottaufrufen nicht selbst zu antiisraelischen Ressentiments bei?
Ich habe einen Boykott gegen die Illegalität befürwortet, gegen die Kolonien, nicht aber gegen Israel als solches, und schon gar nicht gegen Künstler und Forscher. Ich glaube, man muss Israel dort unterstützen, wo die hohe Kunst des Regierens in die gute Richtung geht, und nicht wenn sie falsch ist. Ich habe auch klar gesagt, dass es der Hamas nichts nützt, Raketen auf Sderot oder andere israelische Städte zu feuern. Das ist der Sache der Palästinensern abträglich. Terrorismus ist ein Ausdruck der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit, aus der nichts Positives sprießen kann.
Sie richten sich speziell an die Jugend, waren Sie als Jugendlicher selbst sehr engagiert?
Ich bin 1917 geboren. Und meinte zum Beispiel zur Zeit der Volksfrontregierung (1936) hätte man den spanischen Republikanern mehr Hilfe leisten müssen. Aber Kommunist bin ich nie geworden. Die stalinistischen Verbrechen mit den Moskauer Prozessen von 1935 haben mich abgeschreckt.
Und de Gaulle?
Als ich nach London kam, hat er mich zum Frühstück eingeladen. Er war eine beeindruckende Persönlichkeit. Er war während des Kriegs unersetzbar und hat Frankreichs Ehre gerettet. Ich wurde deswegen nicht Gaullist, fand aber die Art und Weise seines Abgangs 1969 als das Verhalten eines wahren Demokraten: Da er vom Volk nicht mehr unterstützt wurde, trat er zurück.
Herr Hessel, Sie sind jetzt 93 Jahre alt und scheinen in bester Verfassung. Was ist Ihr Geheimrezept?
Ich verdanke dies wohl meiner Mutter. Sie hat mir geraten, nicht zu rauchen, aber auch keinen Sport zu treiben. Vor allem aber hat sie mir beigebracht, dass man selbst glücklich sein muss, um andere glücklich machen zu können.
Haben Sie Angst vor dem Tod?
Nein. Ich bin Atheist, aber aufgrund meiner Beziehung zur Dichtung sehe ich den Tod nicht nur als Ende des Lebens, sondern als Übergang zu etwas anderem, von dem man nichts weiß, vielleicht eine Art Schlaf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin