Kolumne Das Tuch: Buhu. Heul. Würg
Warum Muslime das Mitleid nicht gepachtet haben und was das mit türkischen Kinohits zu tun hat.
A llein steigt der kleine Emrah in den Bus. Im Hintergrund läuft melancholisch-dramatische Arabeskmusik. Betreten guckt Emrah auf seine löchrigen Schuhe, langsam hebt er den Kopf. Wehleidig schaut er den Busfahrer an. Seine Kugelaugen senden einen Welpenblick. Die Unterlippe tritt traurig hervor. "Onkel", sagt er schließlich zu dem Busfahrer, "kann ich … ein … Schülerticket haben?"
Buhu. Heul. Man möchte diesen Jungen am liebsten in die Arme schließen. Nein, adoptieren. Bis in alle Ewigkeit für ihn sorgen. Der Arme, er leidet doch so.
Würg. Das ist das türkische Kino der 80er Jahre mit "Kücük Emrah" in der Hauptrolle - dem Milchbubi, dem das böse Leben immer übel mitspielt. Deshalb singt Emrah mit wackliger Stimme von seinem Leid und geht auf Mitleidstour.
Kübra Yücel, 22, lebt in Hamburg und studiert dort Politikwissenschaften. Daneben schreibt sie ihren Blog "Ein Fremdwörterbuch".
Grausam finde ich das. Bis heute kann ich mich über Menschen, die sich in Mitleid einlullen und hilflos dreinblicken furchtbar ärgern. Vor allem weil sie meistens gar nicht hilflos sind. So wie kürzlich ein muslimischer Bekannter.
Muslime wollen nicht Opfer sein. Sie wollen Missstände souverän benennen und diskutieren können. Auch der Bekannte, mit dem ich kürzlich darüber sprach, sah das so. Aber wenn er sprach, verfiel er wieder und wieder in die Rolle von Kücük Emrah.
Ja, es wurde in den vergangenen Jahren Islamhetze betrieben. Ja, Möchtegern-Experten haben in Talkrunden eine ganze Religionsgemeinschaft verunglimpft. Ja, es besteht eine irrationale Angst vor 20 Prozent der Weltbevölkerung. Ja, es existiert eine offene, teilweise gewalttätige Feindseligkeit. Und ja, das alles ist furchtbar. Deshalb ist es nur menschlich, wenn sich mein Bekannter im ersten Moment wie ein hilfloses Opfer fühlt.
Was mich ärgerte war, dass er erst wehleidig wurde ("Wir werden von allen angegriffen") und dann die eigene Opferrolle romantisierte ("Aber dafür haben wir Gott auf meiner Seite"). Und er ist beileibe nicht der Einzige. Doch wer so handelt, macht es sich in einer Pose gemütlich, die keinen Ausweg kennt und nur sich selbst sieht.
Aber: Muslime haben keine Exklusivrechte auf die Opferrolle.
Trotz all dem Tamtam bleibt Islamfeindlichkeit nämlich nur eine von vielen Formen der Diskriminierung. Schwarze, Juden, Schwule, Frauen - sie machen alle solche Erfahrungen. Muslime waren und sind nicht allein damit.
Ausgrenzung und Herabwürdigung sind schließlich gesamtgesellschaftliche Themen. Muslime müssen sich nicht ganz allein für ihre Belange einsetzen. Weder mein Bekannter noch ich sind also allein und schon gar nicht hilflos. Gemeinsam mit anderen können wir Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Islamophobie bekämpfen. Klar, erleben wir Dinge, da müssen wir weinen dürfen. Aber nicht stets und ständig.
Mit der Mitleidstour und dem Opferblick retten Kücük Emrahs nämlich nur sich selbst. Andere Menschen, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden, bemerken sie nicht. Deshalb an alle, denen es noch nicht aufgefallen ist: Die 80er sind vorbei.
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