Unter falscher Adresse gemeldet: BerlinerInnen stehen auf Schein
Gut 200.000 BerlinerInnen sollen unter einer falschen Adresse gemeldet sein. Nun setzen die Bezirksstadträte auf eine Verschärfung des Bundesmeldegesetzes.
Vor die Ummeldung hat man in Berlin den Warteraum des Bürgeramtes gesetzt. Zwischen längst veralteten Tageszeitungen und Informationen aus der Verwaltung sitzt man auf harten Stühlen und wartet auf den Aufruf der eigenen Wartenummer. Die sich währenddessen in den Händen zu einem klumpigen Etwas verformt. Spaß sieht wahrlich anders aus. Und doch ist für einige BerlinerInnen der Gang aufs Amt nicht nur lästige Bürgerpflicht, sondern eine Art Volkssport. Die Disziplin heißt Scheinanmeldung.
"Allein im Bezirk Mitte sind in diesem Jahr schon fast 10.000 Fälle aufgeflogen, in denen Menschen sich unter falschen Adressen angemeldet hatten", sagt Sozialstadtrat Stephan von Dassel (Grüne). Vor vier Jahren habe die Zahl bei 2.500 Fällen gelegen. "Schuld an dieser drastischen Steigerung ist die Änderung des Meldegesetzes."
Bis 2006 brauchte man für eine Anmeldung beim Bürgeramt eine schriftliche Bestätigung des Vermieters, dass man wirklich an der angegebenen Adresse eine Wohnung bezogen hatte. Doch dieses Verfahren war kompliziert und die entsprechende Bescheinigung meist nicht in den zwei Wochen, die laut Gesetzt nach einem Umzug zur Ummeldung bleiben, einzuholen. So wurde der entsprechende Paragraph aus dem Meldegesetz gestrichen.
"Seitdem kann man sich anmelden, wo man will", erklärt von Dassel. Kleinere Vergehen seien Scheinanmeldungen, um einem anderen Schulbezirk zugeteilt zu werden oder eine Parkvignette zu erhalten. Menschen mit etwas mehr krimineller Energie profitierten von der falschen Adresse auf dem Personalausweis oder erschlichen sich soziale Leistungen.
So bekäme etwa ein Hartz-IV-Empfänger mehr Geld, wenn er sich an einer anderen Adresse anmelde als seine ebenfalls auf Hartz IV angewiesene Freundin, mit der er eigentlich zusammenwohnt. Auch für Kreditkartenbetrug sei eine falsche Meldeadresse gut geeignet. "Wir als Bezirk haben keine Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, denn das Meldegesetz ist Bundessache", so der Sozialstadtrat.
Um das Problem dennoch in den Griff zu bekommen, hat von Dassel eine Initiative gestartet, der sich bislang zehn der zwölf Berliner Bezirke angeschlossen haben. Sie bitten nun bei der Anmeldung um Vorlage des Mietvertrages - eine Regelung, die allein auf den guten Willen der Bürger baut, denn einen Rechtsanspruch dafür gibt es nicht. Auf lange Sicht wird daher eine erneute Änderung des Meldegesetzes angestrebt.
Nur Pankow und Lichtenberg haben sich gegen diese eigenmächtige Verschärfung der Anmeldeprozedur entschieden. "Falsche Anmeldungen hat es schon immer gegeben, ein großes Problem sehen wir da nicht", meint die Lichtenberger Kulturstadträtin Katrin Framke (parteilos). Valide Zahlen fehlten, und so lange das Bundesgesetz keine schärferen Vorschriften für die Anmeldung vorsehe, werde ihr Bezirk sich nicht über Bundesrecht hinwegsetzen. Nichts anderes täte die Initiative von von Dassel. "Wir bereinigen das Melderegister regelmäßig, etwa wenn Wahlbenachrichtigungen mit dem Hinweis auf eine falsche Adresse an uns zurückgehen", so Framke. Das müsse reichen.
Ähnlich argumentiert auch Kristina Tschenett, Sprecherin der Senatsverwaltung für Inneres. "Wir müssen die Kompetenz des Bundes in dieser Sache anerkennen", meint sie. Im Gegensatz zu Framke räumt sie jedoch ein, dass Berlin - als einziges Bundesland - ein Problem mit falschen Anmeldungen habe. Dadurch werde etwa das Auffinden von Straftätern erschwert. "Im Verdachtsfall ist es jedoch weiterhin möglich, sich eine Einzugsbestätigung des Vermieters vorlegen zu lassen. Mehr können wir als Land nicht tun."
In ganz Berlin gibt es laut Schätzungen des Bundes Deutscher Kriminalbeamter etwa 200.000 Scheinanmeldungen. Damit wären fast sechs Prozent der Berliner nicht an ihrem eigentlichen Wohnort gemeldet. Fliegt ihr Fehlverhalten auf, wird es als Ordnungswidrigkeit behandelt und mit höchstens 500 Euro Bußgeld geahndet - das Missachten der Meldepflicht wird so zum Kavaliersdelikt.
Dabei ist die richtige Anmeldung wichtig: Egal, ob es um Wahlunterlagen, Lohnsteuerkarten oder Schulbezirke geht, das Zusammenleben und die Teilnahme an der Gesellschaft basieren darauf, dass die Behörden wissen, wo man wohnt und zu erreichen ist. Von Möglichkeiten des Missbrauchs falscher Adressen, wie oben beschrieben, ganz zu schweigen.
Wie beliebt Scheinanmeldungen dennoch sind, zeigen auch die Angebote, die etwa unter www.guter-leumund.de im Internet gemacht werden. Für 380 Euro kann man sich dort für ein halbes Jahr eine falsche Meldeadresse kaufen, inklusive Nachsendeservice für Briefe und Pakete an den richtigen Wohnort. Auch eine reine Postadresse kann man auf der Seite im Internet ordern. Hier liegen die Kosten bei 150 Euro für drei Monate.
Zeitweise war die Nachfrage so groß, dass überhaupt keine neue Kunden mehr aufgenommen wurden. "Natürlich ist unsere Arbeit legal", sagt ein Mitarbeiter der Firma am Telefon - eine Angabe, die die Berliner Polizei bestätigt. Der Mann möchte aber weder mit Namen genannt werden noch weitere Auskünfte über den Hintergrund des Geschäftsmodells geben. "Diskretion ist unser Geschäft."
Auf ihrer Internetseite wirbt die Firma dafür, mit einer falschen Adresse könne man Privates von Beruflichem trennen oder sich vor Post von der Exfrau schützen. Auch für Rentner, die ihren Altersruhesitz im Ausland hätten, sei eine reine Meldeadresse interessant. Angesichts der gesalzenen Preise kann man aber davon ausgehen, dass nicht alle Gründe, sich eine falsche Meldeadresse zuzulegen, so harmlos sind. Umso erstaunlicher, dass man eine solche in Berlin auch viel einfacher und billiger haben kann, mit einem einfachen Gang zum Bürgeramt.
In seinem Jahresbericht von 2009 hat sich der Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, Alexander Dix, zur Meldeproblematik geäußert. Unter Bezug auf die Initiative von von Dassel schreibt Dix, dass er die Vorlage eines Mietvertrages für keine gute Lösung halte, da dieser Daten enthalte, die die Behörden nichts angingen. Auch er verweist auf das Bundesrecht und schlägt alternativ vor, im Verdachtsfall Kontrollen vor Ort durchzuführen. Die Meldepflicht an sich stellt er nicht in Frage.
Die Stadträte um von Dassel bleiben dennoch weiter bei der Vorlage des Mietvertrages auf freiwilliger Basis. Darüber hinaus setzen sie - auch der Grüne van Dassel - auf die Einhaltung des Koalitionsvertrages der schwarz-gelben Bundesregierung, in dem eine erneute Verschärfung des Gesetzes vorgesehen ist. "Leider reicht es nicht, darauf zu vertrauen, dass die Menschen sich an ihrem Wohnort richtig melden", meint von Dassel. "Wenn wir das nicht kontrollieren, können wir das Meldegesetz auch ganz abschaffen."
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