Neue Vorwürfe zu Stuttgart 21: Artenschutz auf schwäbisch
Die Baumfällarbeiten waren illegal, sagt der BUND. Die Landesregierung habe von den Bedenken hinsichtlich des Juchtenkäfers vorher gewusst.
STUTTGART taz | Die Umweltschutzorganisation BUND hat ihren Vorwurf untermauert, dass die Baumfällungen im Stuttgarter Schlossgarten für das Bahnprojekt Stuttgart 21 illegal waren. Bereits bekannt war, dass die Bahn artenschutzrechtliche Bedenken wegen des Vorkommens des Juchtenkäfers vor den Fällungen nicht ausgeräumt hatte. Jetzt rücken jedoch noch weitere Behörden in den Fokus.
BUND-Landesgeschäftsführer Berthold Frieß sprach von einem "geplanten Rechtsbruch der baden-württembergischen Behörden". "Wir haben klare Beweise dafür gefunden, dass die Landesbehörden bereits deutlich vor dem 30. September von erheblichen artenschutzrechtlichen Problemen wussten", sagte er am Donnerstag in Stuttgart. Zur Absperrung für die Fällungen hatte es im Vorfeld einen massiven und politisch umstrittenen Polizeieinsatz gegeben.
Aus Schreiben des Eisenbahn-Bundesamtes (EBA) an die Deutsche Bahn ging bereits im Oktober hervor, dass es die klare Anweisung gegeben hatte, vor Beginn der Fällungen nähere Untersuchungen zum Artenschutz vorzulegen. Da der BUND Strafanzeige erhoben hat, erhielt er nun Einsicht in sämtlichen Schriftverkehr des EBA. Daraus geht hervor, dass zumindest das Regierungspräsidium Stuttgart, das der Landesregierung unterstellt ist, von den artenschutzrechtlichen Bedenken gewusst hat. Mindestens eine E-Mail wurde auch an das Landesumweltministerium mitgeschickt.
So heißt es beispielsweise in einem Schreiben vom 20. August 2010 vom Regierungspräsidium an das EBA: "Sollten hier weitere Anhaltspunkte für die Einwanderung von geschützten Arten […] bekannt werden, so werden wir das Eisenbahn-Bundesamt hierüber unterrichten. Derzeit liegen uns Informationen über das mögliche Vorkommen des Juchtenkäfers […] vor." Und in einem Schreiben vom 29. September, also zwei Tage vor den Fällungen, heißt es: "Aus rechtlicher Sicht ist zu ergänzen, dass Verbotstatbestände nach § 44 Abs. 1 BNatSchG [Bundesnaturschutzgesetz] […] verletzt werden können. Es ist somit zu prüfen, ob die ökologische Funktion […] weiterhin erfüllt wird."
Aus Sicht des BUND geht daraus auch hervor, dass weder die Naturschutzabteilung des Regierungspräsidiums noch das Eisenbahn-Bundesamt über die bevorstehenden Baumfällungen informiert worden waren. Sie hätten sich lediglich auf Zeitungsinformationen berufen können. Somit seien die zuständige Fachabteilung und die Behörde gar nicht in der Lage gewesen, die Rechtmäßigkeit der Baumfällungen zu überwachen.
Erst am Morgen des 30. Septembers übersandte die Deutsche Bahn dem Eisenbahn-Bundesamt schließlich ein Gutachten zum Vorkommen des Juchtenkäfers, obwohl dieses Gutachten angeblich schon im August fertiggestellt worden war. Das EBA antwortete daraufhin in einer Mail an die Bahn und an das Regierungspräsidium: "Es ist derzeit nicht erkennbar, wie der Ablauf der Bauarbeiten unter Berücksichtigung des Schutzes von Juchtenkäfern durchgeführt werden soll […]." Es gibt zwei Möglichkeiten, den Schriftverkehr zu interpretieren: Entweder diese Informationen sind gar nicht weitergegeben worden. Schon das würde den Landesbehörden ein schlechtes Zeugnis ausstellen. Oder aber die Informationen sind geflossen und wurden bewusst ignoriert.
Das Umweltministerium sagte der taz, dass es wisse, dass gefährdete Tier- und Pflanzenarten im Schlossgarten vorkommen. Alles weitere sei aber eine Sache zwischen der Bahn und dem Eisenbahn-Bundesamt. Das Regierungspräsidium war vor Redaktionsschluss nicht zu sprechen.
Frieß vom BUND wies den Vorwurf zurück, das Artenschutzrecht zu instrumentalisieren, um das Projekt Stuttgart 21 zu stoppen. Das Naturschutzrecht sei genauso eine "Errungenschaft unseres Rechtsstaates" wie andere Rechtsvorschriften auch. Für ihn steht fest: "Das Thema hätte in den parlamentarischen Untersuchungsausschuss gemusst." Dieser befasst sich derzeit mit dem umstrittenen Polizeieinsatz. Wenn es nach den Grünen gegangen wäre, hätte auch hier die Verletzung des Artenschutzrechts eine Rolle gespielt. Die SPD hatte sich jedoch auf die politische Verantwortung konzentrieren wollen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos