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Dem Untergang entgegen

Rosa Luxemburg knüpfte an die Revolution 1918/19 die kühne Hoffnung, dass die Weltrevolution vor der Tür stehe – und erlitt schlimmste Niederlagen. Der grausame Tod der marxistischen Intellektuellen hat ihr Bild im Rückblick verklärt. Was bleibt von ihr?

Von Christina Morina

Die Revolution war ihr Element. In den nicht einmal 50 Jahren ihres Lebens hat Rosa Luxemburg zwei revolutionäre Bewegungen miterlebt und mitgestaltet – die erste Russische Revolution 1905/06 im zaristisch regierten Polen und die Novemberrevolution 1918/19 in Deutschland. Die erste revolutionäre Erfahrung brachte sie ins Gefängnis und prägte fortan ihr politisches Denken mehr als alle Theorie, die sich die promovierte Nationalökonomin und Marx-Schülerin zuvor angeeignet hatte. Die zweite brachte sie aus dem Gefängnis heraus und eröffnete ihr nie gekannte politische Handlungsmöglichkeiten. Sie endete jedoch schon nach wenigen Wochen voller bitterer Kämpfe und Enttäuschungen mit ihrer Ermordung im Januar 1919.

Doch auch wenn sie nicht im Revolutionskampf stand, ging es für Luxemburg tagtäglich darum, die sozialen und politischen Konflikte ihrer Zeit zu verstehen, die daraus resultierenden revolutionären Energien zu bündeln und zu verstärken. Sie verachtete die repressive Monarchie ebenso wie den kompromisslerischen Parlamentarismus. Mit ihrem Engagement bewarb sie sich nicht um ein politisches Amt, sondern um einen Posten als Geburtshelferin der Geschichte. Ausgestattet mit einer umfassenden Bildung, einer ausgeprägten Fähigkeit zum abstrakten Denken, einer großen sprachlichen Begabung sowie einer ungebrochenen Hoffnung auf ihre eigene Wirkungsmacht, stieg sie zur Frontfrau des revolutionären Marxismus auf.

Ihr grausamer Tod und ihre Kritik an Lenins Machtübernahme in Russland haben Luxemburgs politisches Engagement verklärt. Da sie selbst nie in die Lage gekommen ist, Politik wirklich gestalten zu können, da sie ihren hart erarbeiteten intellektuellen Einfluss niemals in reale Macht hat ummünzen können, bleibt meist außer Acht, wie radikal sie nicht nur dachte, sondern auch in ihrem politischen Handeln gewesen ist bzw. gewesen wäre.

Allmacht und Ohnmacht

Um ihre Rolle in der Novemberrevolution verstehen und ihre Bedeutung für die deutsche Demokratiegeschichte ermessen zu können, muss man Luxemburgs Selbstverständnis als marxistische Intellektuelle ernst nehmen. Wie für viele damalige Marxisten speiste sich ihr Engagement aus einer Mischung aus Selbstvertrauen, Erkenntnis- und Tatendrang. Zugleich wurde dieser Gestaltungswille stets von der tief sitzenden Angst herausgefordert, letztlich doch nur ein „totes, hilfloses, nachtrottendes“ Dasein zu fristen. Ihre private Korrespondenz zeugt von derartig widerstreitigen All- und Ohnmachtsvorstellungen.

Eine Postkarte, die sie im Sommer 1900 vom Rheinfall in der Schweiz an die Kautskys sandte, illustriert den Kampf mit der „eigenen Nichtigkeit“, den sie ihr Leben lang führte. Das „unaufhörliche Getöse, das nicht eine Sekunde stillsteht, Tag und Nacht währt, Jahrhunderte überdauert“, erfülle sie mit einem „grausigen, vernichtenden Gefühl“. Jedes Mal, wenn sie im Zug daran vorbeifahre und „die weiße kochende Wasserhölle sehe, schnürt sich mir das Herz zusammen, und in mir sagt etwas: Dort ist der Feind.“ Das Naturschauspiel war, wie die große Geschichte, für sie nicht einfach hinnehmbar, sie musste sich ihm stellen. Lieber sich „in den Rheinfall stürzen und in ihm wie eine Nussschale untergehen, als ihn mit weisem Kopf­nicken weiter rauschen zu lassen“.

Dies waren nicht nur leere Floskeln. Luxemburg war nicht nur in Gedanken bereit, sich selbst und andere allerlei Formen seelischer und physischer Gewalt auszusetzen. Das zeigen nicht zuletzt ihre Briefe und Artikel in der Roten Fahne aus den Wochen vor ihrem Tod. Sie drohte, halb ernst, ihrem Geliebten, ihn so lange zu „terrorisieren“, bis er sie als Frau gut behandle, oder der im Krieg sich ans Bürgertum klammernden Freundin, sie samt ihrer „kriecherischen Froschgesellschaft“ eines Tages wie Penthesilea zu „jagen und hetzen mit Trompetenschall, Peitschengeknall und Bluthunden“. Sie drohte aber auch politischen Gegnern – man glaube nicht, dass sie scherze! –, sie nach dem Anbruch anderer Zeiten „füsilieren“ zu lassen. Nie scheute Luxemburg die Straßengewalt der Revolution: „Liebste“, schrieb sie 1906 aus dem Warschauer Knast an ihre Freunde in Berlin, „hier ist es sehr schön. Jeden Tag werden zwei bis drei Personen in der Stadt von Soldaten erstochen, Verhaftungen kommen täglich vor, sonst ist es aber sehr lustig.“

Im November 1918 hat die gesundheitlich angeschlagene Luxemburg über drei Jahre „Sicherheitshaft“ in neun Gefängnissen hinter sich. Am 9. November wird sie aus der Haft entlassen und stürzt sich als Redakteurin der Roten Fahne und Mitgründerin des Spartakusbundes in den Kampf zur Vollendung der „Weltrevolution“. Sie sieht die Zeit gekommen, die sozia­listische Revolution zu vollenden und das Ende des verheerenden Kriegs in eine Serie nationaler, sich gegenseitig anfeuernder Umbrüche zu verwandeln. Als klar wird, dass die Regierung Ebert bereit ist, Reichswehr- und Freikorpstruppen gegen Revolutionäre einzusetzen, geht es für Luxemburg nicht mehr nur darum, den „Karren“ der Revolution weiterzutreiben, sondern die „Konterrevolution“ zu verhindern.

Die fieberhaften Aktivitäten der folgenden acht Wochen in Redaktionsstuben, Versammlungssälen und ständig wechselnden Quartieren begleitet sie selbst mit dunkler Selbstkommentierung: alles stehe unter einem „blinden Schicksal“; gut möglich, dass sie selbst „bald ins Jenseits befördert werde – vielleicht durch eine Kugel der Gegenrevolution, die von allen Seiten lauert“. Doch Luxemburg wird nicht nur mit Blick auf ihre persönliche Lage von „grimmigen Gedanken“ geplagt. Dazu gezwungen, im Dezember 1918 während der KPD-Gründung erstmals politische Partizipation für eine nationale Bühne zu organisieren, erfährt sie eine ihrer bittersten Niederlagen. Entgegen ihrer jahrelangen Ablehnung parlamentarischer Praxis plädiert sie eindringlich für die Teilnahme an den Wahlen zur Nationalversammlung – und verliert. Sie kann die ultraradikalen Kräfte in ihrer Partei nicht überzeugen und erleidet nach der verlorenen Abstimmung am 30. Dezember in den Gängen des Preußischen Landtags einen Schwächeanfall. Luise Kautsky zufolge, die sie dort aufsammelt, sei sie voller Verzweiflung und Verbitterung gewesen. So wird mit dem Parteitag nicht nur die Spaltung der Sozialdemokratie manifestiert. Die Gründung der KPD ist zugleich auch ein Tiefpunkt in Luxemburgs politischer Biografie.

Ihre letzten zwei Lebenswochen sind einerseits geprägt vom Ringen um politische Vernunft – in der „Schule“ der Revolution müsse das Proletariat erst noch politisch reifen, bevor der Übergang zum Sozialismus gelingen könne. Andererseits unterstützt sie den offenen Straßenkampf der sehr überschaubaren „proletarischen Massen“ gegen die Regierung Ebert/Scheidemann, den „Todfeind des deutschen Proletariats“. So entwickelte sie zwar recht spät noch eine Fähigkeit, ja überhaupt Bereitschaft, politische Realitäten anzuerkennen und sich mit Kompromissen im Interesse eines ferneren Ziels zu arrangieren. Doch in einer aus Kriegsmüdigkeit, Hunger und Erschöpfung erwachenden bürgerlichen Gesellschaft, die nach dem Horror der Schützengräben den Horror der Bolschewistengewehre fürchtet, fanden sozialistische Parolen, die die bürgerkriegsartigen Zustände jener Wochen zugleich anprangerten und anfeuerten, kaum breitere Zustimmung in der Bevölkerung.

So wurde Rosa Luxemburg am 15. Januar 1919 in dem Glauben ermordet, die mit der Novemberrevolution ins Rutschen geratenen Verhältnisse führten direkt in die „Diktatur“ der Mehrheitssozialdemokraten. In einer zweiten Phase würden sich die Auseinandersetzungen noch verschärfen, glaubte sie, nicht nur ad hoc, aus den momentanen Ereignissen heraus, die die Arbeiterklasse dazu zwangen, „ohne Illusionen, Brust an Brust, Auge in Auge den Kampf zwischen der Revolution und der Konterrevolution“ zu führen. Nein, darunter brenne doch das historische Feuer der Großkonfrontation mit dem Kapitalismus. Den politischen Umsturz hielt sie nur für den Anfang des „gesetzmäßigen“ Untergangs der kapitalistischen Ordnung

Der Traum vom Sozialismus

Luxemburg konnte sich mit ihrer Vorstellung einer revolutionär-plebiszitären Demokratie nicht durchsetzen. Doch die gesellschaftlichen Konflikte und Brüche, die sie benannte und zugleich auch mit ihrem Engagement vertiefte, sollten die Geschichte der ersten deutschen Republik tatsächlich prägen, wenn auch entlang anderer Front­linien. Die soziale Frage war im Ersten Weltkrieg ganz in vielen nationalen Fragen aufgegangen. Der Konflikt zwischen sozialistischen und nationalistischen Gesellschaftsentwürfen würde sich jedoch mit dem Aufkommen des Faschismus in einer Weise verschärfen, die damals nur wenige ahnten.

In den extremen Anfängen von Weimar, in die sich Luxemburg wie in die „kochende Wasserhölle“ des Rheinfalls stürzte und darin umkam, war das Scheitern der ersten deutschen Republik nicht unmittelbar angelegt; doch die vielfältigen Vorstellungen von „Demokratie“ und „Volksherrschaft“, die seither und nicht selten mit tödlichen Mitteln verhandelt wurden, prägen bis heute die politische Kultur Deutschlands und Europas. Luxemburgs ambivalente Rolle in diesen Anfängen und der folgende schwierige Umgang mit ihrem Vermächtnis erinnern auf ganz eigene Weise daran, dass zur Geschichte der deutschen Demokratie immer auch ihre Herausforderung gehört.

Christina Morina ist Historikerin und arbeitet an der Universität Amsterdam. 2017 erschien von ihr „Die Erfindung des Marxismus“, eine biografische Studie über die erste Generation der Marxisten. 2018 initiierte sie den Protest gegen die Auflösung der „Historischen Kommission“ der SPD.

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