Regisseurin über „Touch Me Not“: „Der Film wird zum Spiegel“

Die Regisseurin Adina Pintilie über den Dialog mit dem Publikum und die Entstehung ihres Forschungsfilms „Touch Me Not“.

Ein nackte Frau tanzt

Laura Benson in „Touch Me Not“. Am Anfang steif und unbeweglich überwindet sie am Ende ihre Angst vor Intimität und tanzt Foto: Almonde

Bei der Verleihung des Goldenen Bären, den sie im Februar überraschend gewann, war Adina Pintilie richtig krank und brachte auf der Bühne fast kein Wort heraus. Nun, nach einem Dreivierteljahr Festivalreisen mit ihrem Sensationsfilm „Touch Me Not“, ist sie – pünktlich zum deutschen Verleihstart – wieder heiser, und zwar so sehr, dass sie nur flüstern kann.

Automatisch flüstert man mit. Was dann auch wieder stimmig ist, denn ihr sensorischer Film handelt nicht nur von Nähe und Öffnung, Befreiung und allerlei Formen von Sexualität (Callboy, Masturbation, Trans-Peepshow, Sex-Club, Berührungstherapie), sondern vor allem von Intimität. Jeder Satz also kommt wie eine geheimnisumwitterte Offenbarung.

taz: Frau Pintilie, „Touch me not“ ist als Titel ja die totale Ambivalenz. Eine Verneinung als Aufforderung.

Adina Pintilie: Ein klassischer Widerspruch. Dieser Titel markiert für mich recht genau die grundsätzliche innere Spannung, die sich durch den gesamten Film zieht und auch alle Charaktere auf ihrer Reise zu einer Art Befreiung erfasst. Es geht ja darum, wie sie ihre Blockaden loswerden, sich befreien von all dem Gepäck, das sich über die Jahre angesammelt hat. Sie alle kämpfen mit diesem Widerspruch zwischen der Notwendigkeit von Intimität und der Angst vor ihr. „Berühr mich“, aber auch „Berühr mich nicht“ umfasst diese Spannung präzise.

Wie entstand das Projekt – ich würde es so nennen, vielleicht auch Experiment, aber jedenfalls etwas, was noch weitergeht, eine Begegnung.

Hm, wie weit geht das wohl zurück? Vielleicht sogar bis an jenen Punkt, wo ich Bewusstsein entwickelt habe.

Und wann war das?

In der Wissenschaft heißt es ja – und das stimmt mit meiner Erinnerung überein – dass das so mit fünf Jahren einsetzt. Kurze Momente, in denen das Bewusstsein aufscheint. Auch im Film sprechen meine Protagonistin Laura [Benson, Anm. der Red.] und ich an einer Stelle da­rüber: dass unser Projekt eigentlich „vor den Worten“ liegt, also in einer Zeit beginnt, in der sich unsere Erinnerung formiert.

Eine universale Sache, aber zugleich individuell.

Der Film ist ein sehr persönliches Forschungsprojekt für uns alle, nicht einfach nur ein Film. Daher wehre ich mich auch gegen all diese Genrebezeichnungen. Es ist kein fiktionaler Film, aber auch kein Dokumentarfilm, und auch kein Experimentalfilm. Ich würde sagen, es ist ein Recherchefilm, ein Prozessfilm.

Normen sind fiktiv im Vergleich zum breitenSpektrum der Realität

Was war Ihr Ausgangspunkt?

Wie ich im Film erzähle, dachte ich Ende zwanzig: Ich weiß alles über intime Beziehungen, wie Begehren funktioniert. Ich dachte echt, ich weiß alles! Aber nach noch einmal zwanzig Jahren real life war mir klar, dass ich sehr wenig weiß und dass die Realität nur selten so aussieht, wie man uns sagt oder es uns beibringt. Die Familie, die Gesellschaft, die Schule – in Bezug auf Intimität reagieren Menschen völlig unterschiedlich. Die ­Realität ist von unserer normativen Fiktion weit entfernt. Normen sind fiktiv im Vergleich zum breiten Spektrum der ­Realität.

„Touch Me Not“ sagt Normen den Kampf an.

Meine Absicht war zunächst, dieses vermeintlich gesicherte Wissen zu vergessen, um auf Neuentdeckung gehen zu können und mit offenen Augen zu erfahren, wie Intimität wirklich funktioniert. Wenn Menschen solche Erfahrungen machen, sind die oft gar nicht so rosig wie erwartet. Die Realität ist oft widersprüchlich, Emotionen sind komplex.

Der Versuch, zu vergessen, bezieht er sich auch auf das Filmemachen? Darauf, sich von den vielen Normen des Filmemachens zu befreien?

Die richtige Sprache zu finden war eine der großen Herausforderungen. Es existieren ja viele Vorstellungen davon, wie Kino sein soll. Mir gefällt dieser Vergleich sehr, dass es auch hier um eine Selbstbefreiung von Voreingenommenheiten und Rezepten geht – in Bezug auf den Film als Medium.

Die rumänische Filmemacherin und bildende Künstlerin machte im Jahr 2008 ihr Examen an der Nationaluniversität für Theater und Film in Bukarest. Ihr Werk, das sich an der Grenze zwischen Fiktion, Dokumentarfilm und bildender Kunst bewegt, steht für ein neues rumänisches Kino mit einem sehr persönlichen visuellen Stil, einer experimentellen Film­sprache und seiner kompromisslosen Erforschung der menschlichen Psyche.

Der Film: „Touch Me Not“. Regie: Adina Pintilie. Mit Laura Benson, Tómas Lemarquis u. a. Rumä­nien/Deutschland/Tschechien/Bulgarien/Frankreich 2018, 125 Min.

Haben sich im Verlauf des Filmens denn Ihre Pläne konkret verschoben?

Sicher. Das ist ja ein Forschungsfilm, und da liegt es in der Natur der Sache, dass man nicht weiß, wohin einen das führt. Es war eine permanente Erfahrung. Die konkrete Filmsprache kam im Laufe dieses Prozesses wie von allein. Am Ende blieben mir gar nicht so viele Möglichkeiten. Die Verbindung zwischen Sprache und Prozess war organisch.

Und doch gibt es immer wieder unerwartete turns.

Die ganze Struktur ist irgendwie unerwartet, dieses Metakino, die Anwesenheit der Regisseurin und des Kamerateams. Auch unsere Involviertheit in den Prozess. Das war nicht von Anfang an geplant. Was da war, war die Idee des direkten, emotionalen Dialogs mit dem Pu­bli­kum. Deshalb war die vierte Wand von Beginn an durchlässig. Ich brauchte also eine Technik, die das erlaubt, und habe diese bei Errol Morris gefunden. Sie wird seit Jahren für TV-Dokumentationen verwendet: der Teleprompter.

Wie funktioniert der?

Es ist eine technische Struktur, die es den Charakteren im Gespräch mit mir ermöglicht, mich in der Linse zu sehen. Sie sprechen direkt mit der Linse, also auch direkt mit dem Publikum. Ich wollte ursprünglich alternierend die Erfahrungen meiner Charaktere und die Refle­xionen über ihre Gefühle, die sie direkt mit den Zuschauer*innen teilen, bringen.

Apropos Charaktere: Da gibt es Profis und Laien.

Das Casting lief eigentlich eher wie bei einem Dokumentarfilm. Ein Mix aus Profis und Laien, das stimmt, aber es ist eigentlich egal, denn sie alle sind Menschen. Wir wollten eine Mischung aus personalisiertem Material und fiktionalen Elementen. Wichtig war, dass alle eine starke Motivation haben, an diesem Projekt mitzumachen, und sich einlassen auf diesen Dialog mit dem Publikum. Als ich nun diese Dialoge sah, bemerkte ich, dass der Effekt genau gegenteilig war: Die intendierte emotionale Direktheit gab es überhaupt nicht, sondern eher Brecht’sche Verfremdung, die Distanziertheit hervorrief. Ich brauchte Monate, um zu verstehen, warum das so war. Es hängt damit zusammen, dass tief in unserem Gehirn verankert ist, wie wir Filme sehen. Wenn wir ins Kino gehen, lösen wir uns von uns selbst, trennen den Körper des Zuschauers vom Körper des Films.

Gilt das auch für Dokumentarfilme?

Ja, diese Trennung ist immer da. Und ich wollte sie aufheben. Ich wollte dich, die konkrete Zuschauerin, permanent und direkt emotional in den Film hereinholen. Zu einem Teil des Films machen. Die Kamera musste zu diesem Zweck im Film selbst auftauchen, sie ist der Kanal, der immer offen ist für diese Kommunikation, die das Publikum privilegiert, direkten Zugang zu diesen so hochsensiblen Momenten im Leben der Protagonisten zu bekommen. In diesem Kanal spielt sich ein permanenter Gefühlsaustausch ab.

Mit mir hat es das jedenfalls gemacht. Wie war es denn für Sie selbst? Sie sind präsent – vor und hinter der Kamera.

Ich war immer und überall involviert, wollte aber anfangs nicht vor die Kamera treten. Doch musste ich den ZuschauerInnen die Struktur, den apparatus, zeigen – die Kamera als permanent offenen Kanal, und auch mich als Erklärung für den Gefühlstrigger und die gesamte Motivation dieser Kamera. Nicht als Kontrollinstanz.

Das Projekt hat auch Sie „affiziert“. Sie erzählen im Film von sehr intimen Dingen.

Klar, das ist dann schon die nächste Stufe. Ich bin die Anima des Projekts. Aber es ging um dieses unglaubliche Menschsein, das wir auf diese Weise entdecken konnten. Mich sehe ich da eher als Kind, das lernt, neu zu sehen. Etwa wie schön Körper sein können, auch wenn sie Normen nicht entsprechen. Oder wie besonders Beziehungen sein können und wie anders, als ich das bei meinen Eltern wahrgenommen habe. Der Film wird zum Spiegel, den ich vor das Publikum stelle. Für viele ist das sehr unangenehm. Manchmal siehst du in diesem Spiegel Dinge, die du ungern siehst oder vor denen du Angst hast. Der Film triggert die Selbstbefragung. Das verunsichert.

Die Reaktionen gingen extrem auseinander. Manche fühlten sich regelrecht angegriffen.

Einige gaben dem Film gar keine Chance, sind nach ein paar Minuten raus, beim Close-up von Christian [Bayerlein, Rollstuhlfahrer mit SMA; Anm. d. Red.], das für mich absolut schön ist. Ein Zuschauer war so angeekelt, dass er zu fluchen anfing. Andere, die den Film liebten, schritten ein. Ein richtiger Konflikt beim Pressescreening und auch danach: intensive Debatten. Das ist sehr gesund. Mein Film macht ein Angebot zur Diskussion. Man kann dabei die eigenen Schamgrenzen überschreiten. Muss aber nicht. „All emotions welcome.“

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