piwik no script img

OdenwaldschuleGerold Becker ist tot

Einen Tag, bevor an der Odenwaldschule eine Wahrheitskommission über den Missbrauch in den 70er Jahren tagt, stirbt Haupttäter Gerold Becker an einem Lungenemphysem.

Die Odenwaldschule. Bild: dpa

OBERHAMBACH taz | Nun kann ihn niemand mehr anklagen. In der Nacht auf Donnerstag ist Gerold Becker gestorben, jener Mann, der die Odenwaldschule von einer Vorzeigeanstalt in eine Spielwiese für Pädophile verwandelt hat. Becker starb wenige Stunden, bevor an dem renommierten Reforminternat ein Wahrheitsforum über seine und die Taten von mindestens drei Lehrern stattfinden sollte, an einem Lungenemphysem.

Beckers Tod wurde am Freitagvormittag im Zirkuszelt vor der Schule zum 100-jährigen Jubiläum mitgeteilt - unter Fassungslosigkeit, Trauer und Wut. "Der Mann stiehlt sich aus der Verantwortung", sagten Betroffene des Missbrauchs. Der Vorstandsvorsitzende des Trägervereins Johannes von Dohnanyi bedauerte den Tod. "Es tut mir leid für ihn - aber ich hätte noch viele Fragen an ihn gehabt."

Gerold Becker war Theologe und übernahm 1972 die Odenwaldschule, die älteste und wichtigste Reformschule Deutschlands. Unter dem charismatischen Schulleiter bildete sich ein regelrechtes "System Becker" heraus. Anstatt Kinder zu Subjekten des Lernens zu machen, wie die Schule versprach, wurden sie zu Objekten von Pädophilen. An der Schule gab es, wie zwei unabhängige Ermittlerinnen feststellten, über 50 Fälle von sexualisierter Gewalt - von Streichelsex bis hin zu harter Vergewaltigung. Becker habe "ein perfides System von Abhängigkeiten" geschaffen, sagte die Laudatorin und ehemalige Schülerin Julia Fischer, kurz nachdem der Tod Beckers bekannt gegeben worden war.

Gerold Becker dürfte der Haupttäter an der Odenwaldschule gewesen sein. Nach erschütternden Berichten von Opfern beging er auch Vergewaltigungen. Viele der Lehrer und Schüler waren schockiert von der Doppelgesichtigkeit Beckers. "Er konnte so wunderbar mit Kindern umgehen", sagte eine Mitarbeiterin der taz, "aber es war ein solcher Betrug, ich kann es nicht fassen." Becker, der der Lebensgefährte des bekannten Pädagogen Hartmut von Hentig war, kam als "junger Forscher" und Superpädagoge an die Schule. Er blieb bis zum Jahr 1985.

Einen Tag vor seinem Tod wurde durch einen Bericht der Aufklärerinnen bekannt, wie Becker damit umging, wenn er auf seine Taten angesprochen wurde. Ein Schüler berichtete, dass "es nicht lange dauerte, bis ich Gerüchte über Gerold Beckers sexuelle Vorlieben mitbekam. Die Aussicht auf einen pädophilen Schulleiter war uns allen zuwider." Der Schüler ging 1971 zu Becker und konfrontierte ihn. Er dürfe nicht Schulleiter werden, sagte er. Becker aber habe so reagiert wie immer: sanft, gelassen, selbstsicher. Er habe nichts zu befürchten, habe er gesagt.

Auch die Laudatorin Julia Fischer nannte Becker einen "Pädagogen von besonderer Strahlkraft". Aber sie rechnete entschlossen mit ihm ab. Sie fragte, "wie kann es sein, dass sich viele in dieses System ergaben? Wie viele wurden von Gerold Becker erpresst? Gab es bereits sektenartige Strukturen mit dem Guru Becker im Zentrum?"

Das Rätsel um Gerold Becker ist, wie ein Pädophiler 13 Jahre lang an einer Schule bleiben konnte, in deren Trägerverein und Aufsichtsrat die besten deutschen Pädagogen saßen. Viele dieser Menschen haben nach der ersten Aufdeckung seines Missbrauchs im Jahr 1999 weiter mit ihm zusammengearbeitet. Becker beriet Schulen, gab Bücher heraus und schrieb Aufsätze über die Bedeutung des Körpers für die Pädagogik.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

19 Kommentare

 / 
  • S
    Sascha

    Eigenartig, dass solche Schweinereien jahrzehnte unter den Teppich gekehrt wurden. Und was Herr "Seelsorger" schreibt, ist sowas von Mumpitz. Die Katholische Kirche geht erst "offen" damit um, als die Medien schon über den Mißbrauch und damit meine ich nicht nur den in der Odenwaldschule, berichtet haben.

     

    Schade, dass das nicht in USA passiert ist, dann hätte die Kirche Millionen Dollar bezahlen "dürfen"....

  • TL
    Tom Lenard

    aber die Herren Exzellenzen

    von Hentig, von Weizsaecker et al.

    duerfen weiter schwaenzen

  • G
    Gauner

    Scheintod! Was für ein Zufall... Nein, das kann ich nicht glauben.

     

    Scheintod!

  • D
    denninger

    Oh ja, klar, es war alles Beckers Werk und die "besten deutschen Pädagogen" des Aufsichtsrates und Trägervereins wurden getäuscht und geblendet und sind nach ihrer eigenen Logik somit auch Beckers Opfer.

    Mir stellen sie sich als Versager oder Mittäter dar.

    Dass selbst der Gründer der Schule der Pädophilie und dem Missbrauch nahestand wird nicht mehr erwähnt.

    Nach der Devise "Retten was zu retten ist" wird verschwiegen, verharmlost, gelogen und zum Schweigen gebracht.

    Und da greift Ihr die Katholische Kirche an?

  • S
    saalbert

    Lieber Mike, es steht im Vorspann: "... stirbt Haupttäter Gerold Becker an einem Lungenemphysem."

  • R
    reblek

    Wohl wahr, Kid Moe. Es ist schon erstaunlich, dass der für Bildung zuständige Redakteur einen solchen Haufen Fehler in einen so kurzen Text fabriziert.

  • MS
    Michael Scheier

    Pädophil oder Pädosexuell?

     

    Liebe TAZ, ich fände es gut, wenn Ihr Euch entschließen könntet, die Handlungen eines Gerold Becker beim Namen zu nennen: es handelt sich nämlich in der Tat nicht um pädophile, sondern um pädosexuelle Handlungen mit Kindern. Pädophilie bedeutet "Kinderliebe" bzw. "Knabenliebe" und dieses Wort ist ein von Pädosexuellen oft selbstgewählter Euphemismus für etwas, was in der Tat sexueller Mißbrauch von Abhängigen ist. Ausserdem geht in der undifferenzierten Benutzung des Begriffes auch unter, dass es genug Menschen mit "pädophilen" Wünschen und Phantasien gibt, die aber sehr wohl zwischen Wunsch und Realität zu unterscheiden wissen, empathisch sind und die tatsächliche sexuelle Ausbeutung von Kindern in jeder Form verabscheuen.

  • T
    Tom

    @Mike: Im Subtitel steht »Lungenemphysem«

  • TR
    Thomas Roth

    "Als man dies im Dorf erfuhr /War von Trauer keine Spur. / Gottseidank, es ist vorbei /Mit der Päderasterei!"

    (Wilhelm Busch, Mayx und Moritz, etwas abgewandelt)

  • L5
    Libelle 52

    Rechtschreibfehler: dito; nerven ein wenig.

    Erst im Word (oder was auch immer)entwerfen und nach Rechtschreibprüfung reinkopieren und online stellen. Danke.

  • M
    Mackie

    Mike, es steht im ersten Absatz:

     

    "Einen Tag, bevor an der Odenwaldschule eine Wahrheitskommission über den Missbrauch in den 70er Jahren tagt, stirbt Haupttäter Gerold Becker an einem Lungenemphysem."

  • P
    Peter

    Er sieht jetzt zu uns herauf und lächelt.

    (Hoffentlich gibt es eine Hölle.)

  • BB
    Bodo Bender

    Es gibt ein Bild von Becker, das sich selbst interpretiert: Zeigefinger auf den Lippen. Augen nicht erkennbar, da überklebt.

    http://www.fr-online.de/_em_daten/_multicom/2010/03/19/100319_1714_becker_ddp.jpg

  • M
    Mau

    Ich würde auch gerne wissen, ob der Mann den Freitod gewählt hat, einfach weil im Text suggeriert wird, dass er sich aus der Verwantwortung gestohlen habe.

    Wenn er eines natürlichen Todes gestorben ist, dann hat das von mir erwähnte Zitat den Gehalt eines Bild Titels..

  • SK
    Seelsorger K.B.

    Als katholischer Geistlicher bin ich sehr betroffen über diese schlimmen Vorkommnisse. Entsetzt bin ich allerdings darüber, wie religiöse Sondergruppen solche Vorkommnisse zu Ihren Gunsten ausschlachten, obwohl in deren eigenen Reihen genau die selben Mißbräuche vorkommen - und das nicht nur in Einzelfällen.

     

    Ein Beispiel hierfür sind z.B. die Menschen, die an den Strassenecken dafür bekannt sind, dass sie jetzt schon über 130 Jahren das angebliche Ende der Menschheit in Form von "Harmagedon" in Ihren kostenlos verteilten Heftchen wie Wachtturm und Erwachet ankündigen.

     

    Wer den Begriff "Silent Lambs" im Internez eingibt wird feststellen, dass es auch unter diesen Endzeitpredigern zu Tausenden von Sexualdelikten gekommen ist.

     

    Im Gegensatz zur katholischen Kirche, die eine offene Politik und Aufklärung betreibt, wird in diesen Kreisen durch eine Art Parajustiz alles mögliche unternommen, um solche Delikte unter den Teppich zu kehren.

     

    So sind denn auch die unzähligen sexuellen Mißbrauchsfälle, die von Silent Lambs unter religiösen Sondergruppne dokumentiert sind, nur die Spitze des Eisberges.

     

    Wer von Euch ohne Sünde ist, werfe dem ersten Stein...

  • BG
    Bernd Goldammer

    Der Artikel ist zumindestens grob fahrlässig geschrieben! Er legt Meinungen nahe, ohne die Hauptinformation zu bringen. Woran oder wodurch starb Gerold Becker? Natürlich? Fremdbestimmt? Oder durch eigene Hand? Jede der drei Möglichkeiten würde diesem Fall völlig unterschiedliche Verläufe geben. Wie verzweifelt war er? Welches wissen nimmt er nun leider mit ins Grab? Es könnte sein, dass Mitschuldige sich jetzt hinter dem Toten verstecken können. Liebe TAZ, es lohnt sich immer noch, auch bei Pädophilen, journalistische und rechtsstaatliche Grundsätze strengstens zu beachten.Oder seid ihr dem Anliegen von Heinrich Böll nicht mehr verpflichtet?

  • C
    Christ

    Gerold Becker hat nicht nur an der Odenwaldschule gewirkt. Er gehörte zur Leitung der Schulkommission der EKD = Evangelische Kirche Deutschlands.

    Er hat dafür gesorgt, dass reformpädagogische Inhalte zum alleinigen Programm evangelischer Schulneugründungen wurden.

    Das betrifft vor allem die neuen Bundesländer.

    Für diese monothematische Ausrichtung könnte es andere Motive als die Selbstbestimmung der Kinder gegeben haben.

  • M
    Mike

    Ist nicht pietätslos gemeint: aber aus dem Artikel geht nicht hervor, ob Gerold Becker eines natürlichen Todes gestorben ist. Gibt es dazu Erkenntnisse?

  • KM
    Kid Moe

    Erkennt euer Textverarbeitungsprogramm keine Rechtschreibfehler? Fällt n bisschen auf.