: Armutsfalle Minijob
Die Abgabenfreiheit verleitet dazu, wegen kurzfristiger Vorteile Altersarmut in Kauf zu nehmen. Die Unternehmen vergeben laut DGB die Chance, Fachkräfte an sich zu binden
Von Gernot Knödler
Das Modell stammt aus einer Zeit, da Deutschland als „kranker Mann Europas“ galt, mit geringem Wirtschaftswachstum und hoher Arbeitslosigkeit. Besser irgendeine als gar keine Beschäftigung war die Devise der rot-grünen Bundesregierung. Mit dem sogenannten Minijob schuf sie die Möglichkeit, sich abgabenfrei etwas hinzuzuverdienen: brutto für netto – für viele ein attraktives Modell.
Aus Sicht des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) hat dieser Weg in die Irre geführt. Denn ohne Sozialabgaben haben die Minijobber auch keine oder nur minimale Ansprüche an die Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung. „Minijobs schaden der Gesellschaft mehr, als dass sie einen Nutzen bringen“, sagte Hamburgs DGB-Vorsitzende Katja Karger am Freitag. Es sei Zeit für eine Reform.
Karger zog damit das Fazit aus einem „Minijobreport“ des DGB für Hamburg: Minijobs seien für die Beschäftigten eine berufliche Sackgasse mit sozialen und wirtschaftlichen Nachteilen bis hin zur Altersarmut. Sie verlockten Frauen zu falschen Entscheidungen und hielten den Unternehmen die dringend benötigten Fachkräfte vor.
Nach den vom DGB vorgestellten Zahlen gibt es in Hamburg heute fast 50 Prozent mehr Minijobber als vor 15 Jahren. Die Mehrheit von ihnen verfüge über kein anderes Einkommen. Besonders der Einzelhandel und die Gastronomie bedienten sich dieses Modells, das im übrigen überproportional von Frauen genutzt werde.
„Der hohe Frauenanteil in diesen Jobs ist kein Zufall, sondern das Ergebnis von gezielten staatlichen Fehlanreizen“, stellt der DGB fest. Das Ehegattensplitting mache es steuerlich attraktiv, die Verdienstgrenze von 450 Euro nicht zu überschreiten und dränge die Frauen in die Rolle der Zuverdienerin neben einem männlichen Ernährer.
Außerdem habe sich erwiesen, dass der Minijob keineswegs die erhoffte Brücke sei, die Erwerbslose in eine reguläre Beschäftigung führe. Im Gegenteil: „Wer einmal einen Minijob hat, kommt da nicht wieder raus“, sagt Karger. Das liege daran, dass die Minijobs nur einen geringen Beschäftigungseffekt hatten und wiederum an den Anreizen: Viele Beschäftigte sähen nur den kurzfristigen Vorteil der Steuer- und Abgabenfreiheit und nicht die langfristigen Nachteile.
Der DGB schlägt deshalb vor, eine Beratungsstelle für Beschäftigte und Betriebe einzurichten. Sie solle auch darüber aufklären, dass Minijobber wie andere Beschäftigte Anspruch haben etwa auf den Mindestlohn, bezahlten Urlaub und Mutterschutz. Häufig würden Beschäftigte darum geprellt, sagt Karger. Überdies sei eine sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung in vieler Hinsicht besser für die Beschäftigten wie für die Betriebe.
Arbeitslos sind derzeit 67.000 Hamburger (6,6 Prozent). 44.000 von ihnen sind als Langzeitarbeitslose auf Grundsicherung angewiesen. Der DGB zählt Leute in subventionierten Jobs und Erkrankte hinzu und kommt so auf 94.000 „Unterbeschäftigte“ (9,1 Prozent).
Minijobs haben 177.000 Hamburger – 48 Prozent mehr als 2003. Zwei Drittel davon im Alter von 25 bis 64 Jahren. 60 Prozent haben kein anderes Einkommen. 40 Prozent haben eine abgeschlossene Berufsausbildung, zehn Prozent einen akademischen Abschluss.
Die Zahl der Beschäftigten stieg im vergangenen Jahr um 2,3 Prozent auf 964.500. Ein Drittel davon ist nach Angaben des DGB „atypisch“ beschäftigt, also in Teilzeit, befristet oder mit Werkverträgen.
„Es kann sich für beide Seiten lohnen“, räumt Brigitte Nolte, Geschäftsführerin des Handelsverbands Nord in Hamburg ein. Der Verband biete seinen Unternehmen eine Beratung über die Rahmenbedingungen an. Eine Anstellung mit Sozialversicherung könne für die Betriebe eine Möglichkeit sein, Mitarbeiter mit Blick auf den zukünftigen Fachkräftemangel an sich zu binden.
Um die Langzeitarbeitslosigkeit und die atypische Beschäftigung (siehe Kasten) zu bekämpfen, schlägt der Gewerkschaftsbund einen sozialen Arbeitsmarkt mit vollwertigen sozialversicherungspflichtigen Jobs vor.
Regionale Beiräte aus Vertretern der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerschaft könnten klären, wo geförderte Jobs in der Privatwirtschaft entstehen könnten. Ein weiteres Beschäftigungsfeld sei die regionale Kultur- und Stadtteilarbeit. „Wir brauchen eine Arbeitsmarktpolitik, die Größeres im Kopf hat“, sagt Karger. „Wie wollen wir eigentlich leben?“
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