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Ein Leben als Gejagter

21 Jahre ließ China den in München lebenden Kritiker und Menschenrechts-aktivisten Dolkun Isa über Interpol auf der ganzen Welt jagen – ohne je einen Beweis für ein Verbrechen vorzulegen

Dolkun Isa,1993 beim Besuch im ostchinesischen Xinjiang Foto: privat

Von Harald Maass

Der Weg zu Dolkun Isa führt ins Münchner Bahnhofsviertel. Ein heruntergekommenes Bürohaus, das Treppenhaus blassgelb gestrichen. Drei eingetrocknete Büropflanzen darben auf dem Steinfußboden. Vorbei am Call Shop Alamir im Erdgeschoss und dem Hairstyling-Salon Paradiso geht es in den dritten Stock. Hier arbeitet Dolkun Isa. Seit vielen Jahren schon und ganz offiziell. Sein Name steht an der Tür. Er hat einen deutschen Pass, seine Kinder gingen in München zur Schule. Doch Isa ist ein gejagter Mann. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist er auf der Flucht. Verfolgt von einem mächtigen Gegner, einem ganzen Staat – China.

Jemand musste Josef K. verleumdet haben,

denn ohne dass er etwas Böses getan hätte,

wurde er eines Morgens verhaftet.“

(aus Franz Kafka: „Der Process“)

Rom, Juli 2017. Isa ist auf dem Weg zum italienischen Senat, um über die Menschenrechtssituation in China zu sprechen. Am Eingang zum Palazzo Madama, dem barocken Senatsgebäude, tauchen plötzlich Polizisten auf. Es sind Beamte der Spezialeinheit Digos. „Sie hielten ein Foto von mir hoch und sagten, dass ich mitkommen müsse“, sagt Isa. Noch im Polizeiauto ruft er seinen Anwalt in München und das Außenministerium in Berlin an. Auf der Polizeistation wird Isa behandelt wie ein Verbrecher: Fotos werden geschossen, Fingerabdrücke gemacht. „Ich war geschockt und hatte Angst, dass sie mich an China ausliefern würden“, sagt Isa. Drei Stunden wird er festgehalten. Dann lassen die Behörden ihn gehen.

Isa kam 1996 als Flüchtling aus China nach Deutschland. In München erhielt er Asyl, seit 2006 ist er deutscher Staatsbürger. Doch wirklich frei ist er bis heute nicht. 21 Jahre lang stand sein Name bei Interpol auf der Fahndungsliste. In mehreren Ländern wurde er festgenommen – immer begleitet von der Angst, nach China abgeschoben zu werden, wo ihm Folter und möglicherweise die Todesstrafe droht. Seine Familie wurde bedroht und drangsaliert. Hacker haben seine Webseite angegriffen, sein Telefon blockiert. Selbst normale Bankgeschäfte kann er oft nicht machen, weil er offiziell als gesuchter Verbrecher gilt.

Aus einer Thermoskanne gießt Isa Tee ein. 50 Jahre ist er alt. Er hat ein schmales Gesicht, das dichte Haar ergraut langsam. Er trägt ein blaues Hemd, Krawatte. Unter der dunklen Anzughose schaut eine lange Unterhose hervor, wie es im Winter in China üblich ist. Während er über sein Leben spricht, lacht er mehrmals auf, auch wenn er von Festnahmen und gefährlichen Situationen erzählt. Und doch sagt er Sätze wie: „Ich bin nirgendwo sicher. Mir kann jederzeit und überall etwas passieren.“

Es war 1999, als Isa eher zufällig erfuhr, dass er von Interpol weltweit zur Fahndung ausgeschrieben ist. Mit einem Freund war er im US-Konsulat in Frankfurt, um ein Visum für eine Reise zu beantragen. Plötzlich stehen zwei uniformierte Sicherheitsmänner des Konsulats vor ihnen. „Mitkommen“, kommandieren sie und führen Isa zu einem Streifenwagen. Man müsse „einige Angaben überprüfen“, erklärt ein Polizist. Kurz darauf ist Isa auf dem Weg zur Polizeiwache.

Erst denkt Isa, dass es sich um ein Versehen handelt. Die Stimmung auf der Polizeiwache ist entspannt. Ob er denn jemanden umgebracht habe, scherzt ein Polizist. „Wie viele denn?“, witzelt Isa zurück. Kurz darauf ändert sich die Atmosphäre. Mit ernstem Gesicht hält der Beamte ein Fax mit Isas Foto hoch. „Sind Sie das? Wenn Sie das sind, werden Sie heute noch festgenommen!“ Es liege ein Haftbefehl aus Peking vor, wegen eines schweren Verbrechens.

Isa ist im Schock. Damals war er erst drei Jahre in Deutschland. „Ich hatte keine Ahnung, was es bedeutet, in einem Rechtsstaat zu leben“, erinnert er sich. In China hatte er die Erfahrung gemacht, dass eine Anklage immer auch zur Verurteilung führt. Er ist sich sicher, die nächsten Jahre im Gefängnis verbringen zu müssen. „Ich fragte mich nur, ob man mich nach der Haft nach China abschieben würde.“ Fünf Stunden dauert die Befragung auf der Polizeiwache. Dabei erfährt Isa zum ersten Mal, dass China eine sogenannte Red Notice gegen ihn bei Interpol ausgestellt hat – einen internationalen Fahndungsaufruf, verbunden mit einem Festnahmeersuchen. Sehen darf er die Suchmeldung nicht. Auch welches Verbrechen man ihm vorwirft, erfährt er nicht.

Man muss nicht alles für wahr halten,

man muss es nur für notwendig halten.“

„Mir kann jederzeit und überall etwas passieren“

Dolkun Isa

(aus Franz Kafka: „Der Process“)

Isa schaltet seinen Anwalt ein. Die Polizisten telefonieren, holen Erkundigungen ein. Am Ende geben die Beamten Entwarnung. Da er ein anerkannter Flüchtling sei, werde Deutschland Isa nicht ausliefern. Er darf nach Hause.

Einst träumten die Uiguren von einem eigenen Staat. 1933 rief man die Republik Ostturkestan aus, die sich jedoch nur kurz halten konnte. Nach einigen Jahren unter der Herrschaft verschiedener Mächte machten die Chinesen die rohstoffreiche Region 1949 zu einer Provinz der Volksrepublik. 1955 wurde Xinjiang – wie später auch Tibet – zum Autonomen Gebiet erklärt. Doch der Status der Autonomie existierte nur auf dem Papier. Unter dem Einfluss Chinas wurden die Uiguren immer stärker marginalisiert. Mit staatlichen Programmen siedelte Peking Millionen von Han-Chinesen nach Xinjiang um – an vielen Orten wurden die Uiguren zur Minderheit in ihrem eigenen Land. Ihr Sprache und Kultur dürfen sie nur noch eingeschränkt unterrichten. Ein brutaler Polizeistaat unterdrückt jede Form der Kritik. Menschenrechtsorganisationen berichten von willkürlichen Festnahmen, öffentlichen Schauprozessen, Folter und Hinrichtungen. Zehntausende Uiguren wurden in den vergangenen Jahren in Umerziehungs-Camps und Arbeitslagern interniert. Immer wieder kam es zu – zum Teil gewalttätigen – Demonstrationen und Auseinandersetzungen zwischen Uiguren und Han-Chinesen.

Isa wächst in Aksu nahe der Taklamakan-Wüste auf. Nach der Schule beginnt er ein Physikstudium an der Xinjiang Universität in Urumqi. Es sind die achtziger Jahre, die freieste Zeit seit Gründung der Volksrepublik. Überall im Land diskutieren Studierende über demokratische Reformen und Rechtsstaatlichkeit. 1985 demonstrieren mehrere tausend uigurische Studierende, um gegen Nu­klear­tests und die Ansiedlung von Han-Chinesen zu protestieren. „Ein Wendepunkt“ in seinem Leben, sagt Isa. „Wir stellten Fragen: Warum gibt es so viel Ungerechtigkeiten? Warum werden wir Uiguren diskriminiert?“

Isa engagiert sich, gründet eine Studenten­organisation. Ihr Ziel ist, die Alphabetisierung der zumeist ungebildeten Uiguren zu fördern. 1988 demonstrieren sie wieder an der Universität. Diesmal schlagen die Behörden zurück: Isa wird vier Monate unter Hausarrest gestellt und von der ­Universität verwiesen. „Ich war am Boden zerstört.“ Eine Zeit lang hält er sich als fahrender Händler über Wasser. 1990, einige Monate nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, geht er nach Peking, um Englisch zu lernen.

Es ist die Zeit der wirtschaftlichen Öffnung. Die ersten private Geschäfte und Unternehmen entstehen. Das Land brodelt vor neuen Möglichkeiten. Isa eröffnet ein uigurisches Restaurant, lernt seine spätere Frau kennen. Doch ganz will er seine politischen Ziele nicht vergessen. Heimlich vervielfältigt er uigurische Geschichtsbücher – in den Augen der KP ein Verbrechen. In seinem Res­taurant treffen sich uigurische Intellektuelle und Ausländer – auch das macht Isa für die Behörden verdächtig. 1994 erhält er einen Tipp, dass er festgenommen werden soll. Mit einem gefälschten Pass gelingt ihm die Flucht in die Türkei, von wo aus er später weiter nach Deutschland ausreist. „Damals kamen viele Uiguren nach Deutschland“, erinnert sich sein Anwalt Albrecht Göring. Isa sei „kein besonderer Fall“ gewesen. Er wird als Flüchtling anerkannt. Seine Frau, die zunächst in Peking geblieben war, reist ihm nach.

Isas Probleme beginnen, als er sich für die Rechte seiner Landsleute in Xinjiang einsetzt. 1996 gründet er in München eine Exilorganisation, die heute Weltkongress der Uiguren (WUC) heißt und deren Präsident Isa ist. Er reist zu Tagungen, tritt im EU-Parlament und bei den Vereinten Nationen auf, um über die Menschenrechtsverletzungen in seiner Heimat zu berichten. Vom Natio­nal Endowment for Democracy, einer an den US-Kongress angelehnten Stiftung, erhält er finan­ziel­le Unterstützung.

Für Pekings Machthaber wird er damit zum Gegner. Es beginnt ein unerbittlicher Kampf ­gegen den Kritiker und seine Familie. Bereits 1997 lässt Peking Isas Namen auf die Interpol-Fahndungsliste setzen. Beamte der chinesischen Staatssicherheit üben Druck auf seine Familie in Xinjiang aus, sperren den Bruder ins Gefängnis. Mit viel Glück und über Umwege gelingt es Isa und seiner Frau, die dreijährige Tochter, die bis dahin bei den Großeltern gelebt hatte, aus China rauszuholen.

Anlässlich der Terroranschläge in New York im September 2001 erklärt Peking die Verbände der Exil-Uiguren zu „Terroristenorganisationen“. Am 15. Dezember 2003 veröffentlicht das Ministerium für Staatssicherheit eine Namensliste mit elf „Ostturkestan-Terroristen“. An dritter Stelle: Dolkun Isa. Plötzlich ist Isa ein Terrorist. Hochrangige chinesische Diplomaten reisen nach Berlin und München, um ein Verbot des WUC als Terrororganisation zu fordern. Dolkun Isa müsse nach China ausgeliefert werden, weil er angeblich Terroranschläge finanziert haben soll. Beweise legen sie nicht vor. „Ich konnte damals nächtelang nicht schlafen“, erzählt Isa. Der bayerische Verfassungsschutz durchleuchtet Isa und den WUC. Experten des Bundeskriminalamtes reisen 2004 auf Einladung der chinesischen Staatssicherheit nach Xinjiang, um vor Ort die angeblichen Beweise zu sichten. Das Ergebnis der deutschen Behörden ist einhellig: Die Vorwürfe sind ohne jede Grundlage.

Erst 2018 hob Interpol den Haftbefehl auf Foto: Thomas Dashuber

Doch der politische Druck aus China zeigt Wirkung. Für Isa wird es immer schwieriger, bei Menschenrechtsanhörungen im Ausland aufzutreten. 2005 wird er in Genf von der Polizei festgenommen. Im Jahr darauf stoppen ihn amerikanische Grenzpolizisten am Dulles-Flughafen in Washington bei der Einreise. Sein Name stehe auf einer schwarzen Liste des US-State-Departements, heißt es. Die Grenzer nehmen ihm Geld und Handy ab und setzen ihn ohne Hemd, Gürtel und Schnürsenkel in eine Lufthansa-Maschine zurück nach Deutschland. „Ich habe fast geweint, so beschämend war das“, sagt Isa.

Sein Leben führt Isa zu dieser Zeit schon längst im Krisenmodus. Auf Anraten seines Anwalts Göring konsultiert er vor jeder Reise das Außenministerium in Berlin. In seinem Handy hat er diverse Notfallnummern gespeichert. Auf Langstreckenflügen achtet er darauf, möglichst in Europa umzusteigen, wo er sich geschützt wähnt. Doch immer wieder holt ihn der Interpol-Fahndungsaufruf ein. Mal kann er im Ausland kein Geld wechseln, weil im Computer der Bank eine Warnung aufleuchtet. Mal muss er eine Nacht im Transitbereich eines Flughafens auf dem Boden schlafen, weil die Einreise und Übernachtung im Hotel zu gefährlich wäre.

Im September 2009 nehmen südkoreanische Grenzpolizisten Isa bei der Einreise in Seoul fest, wo er bei einem Demokratieforum teilnehmen soll. „Erst dachte ich, dass man mich schnell zurück nach Deutschland schicken wird.“ Als er nach einem Tag immer noch in der überfüllten Zelle sitzt, habe er „wirklich Angst“ bekommen. China verlangt von Seoul die sofortige Auslieferung. Die USA und Deutschland halten dagegen. „Das war damals wirklich knapp“, erinnert sich Göring. Amnesty International setzt sich für Isa ein. Nach 57 Stunden darf er nach Deutschland fliegen

Nach seiner Rückkehr beauftragt Isa Göring, Beschwerde bei der Interpol-Zentrale in Lyon einzureichen. Das erste Schreiben kommt postwendend zurück, weil es auf Deutsch und nicht in einer der Arbeitssprachen von Interpol verfasst ist. Als Göring ein zweites Schreiben schickt, dauert es zwei Jahre, bis Interpol zu einer Entscheidung kommt: Antrag abgelehnt. Interpol will nicht einmal bestätigen, dass Isas Name auf der Suchliste steht. Man könne nicht „offenbaren, ob oder ob nicht Informationen über Ihren Klienten in der Interpol-Datenbank gespeichert sind“. Der Kontakt sei „wie Treibsand“ gewesen, sagt Göring.

Erst fünf Jahre später, nachdem Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch sich für Dolkun Isa und andere Opfer von Interpol einsetzen, kommt Bewegung in den Fall. Anfang 2017 beantragt die in London ansässige Organisation Fair Trials im Auftrag von Isa bei einer Schiedsstelle von Interpol erneut die Löschung seines Fahndungsaufrufs. Ein Jahr dauert das Verfahren. Am 21. Februar dieses Jahres teilt Interpol Isa das Ergebnis mit: Die Untersuchung habe ergeben, dass Chinas Fahndungsaufruf eine „überwiegend politische Dimension“ zugrunde liege, heißt es in dem Begründungsschreiben. Isas Name wird offiziell aus der Interpol-Datenbank gelöscht.

Bis heute hat Isa nie eine formale Anklage ­gegen sich gesehen. In der gesamten Korrespondenz von Interpol, auch in der Entscheidung der Schiedsstelle, sind alle Hinweise und Informatio­nen über die Vorwürfe gegen Isa gelöscht – auf Verlangen Chinas. Zwei Jahrzehnte wurde Isa wie ein Krimineller gejagt, ohne je zu erfahren, -warum.

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