piwik no script img

Hörspiel Virginia Woolfs „Zum Leuchtturm“ ist Psychoanalyse als Literatur. Das Ziel der Autorin: die Besessenheit mit der Mutter hinter sich lassenDas gnadenlose Vergehen der Zeit

Meeresrauschen, nicht sanft, sondern mächtig, kraftstrotzend, aber gleichzeitig beruhigend. Dies ist das erste akustische Signal, welches das Hörspiel „Zum Leuchtturm“ sendet. Es ist auch das Geräusch, das beim Lesen von Virginia Woolfs (1882–1941) fünftem, 1927 veröffentlichtem Roman permanent präsent ist – analog zu den unaufhörlich fließenden, ineinander verschmelzenden Gedankengängen aller Figuren.

Die Story – ein Bootsausflug zum Leuchtturm, der Herzenswunsch des kleinen James Ramsay, findet aufgrund der Wetterlage nicht am nächsten Tag, sondern erst zehn Jahre später statt – ist eine wenn auch symbolträchtige Nebensache. Woolf verglich den Akt des Schreibens an „Zum Leuchtturm“ mit einer erfolgreich durchgeführten Psychoanalyse, der ihr half, „die Besessenheit mit meiner Mutter hinter mir zu lassen“.

Das Ehepaar Ramsay ist ihren Eltern nachempfunden. Dem korrekten, kühlen Vater, „dünn wie ein Messer“, und der gefühlsbetonten, früh verstorbenen Mutter, die zum vermeintlichen Wohl aller die Fäden in der Hand hielt. Das von zahlreichen Besuchern bevölkerte Sommerhaus der Ramsays auf einer Hebrideninsel vor Schottland, in dem es für die acht Kinder des Hauses „keinen Rückzugsort gibt“, ist dem Woolf’schen Ferienhaus im südenglischen St. Ives nachempfunden.

Doch auch die autobiografischen Reflexionen dienen Woolf eher als Sprungbrett für Überlegungen über universelle Gegensätze wie männliche und weibliche Wahrnehmung und Zuschreibungen, kreative Ausdrucksformen und sterile Faktenhuberei, Leben und Tod und damit die Erfahrung von Vergänglichkeit und Dauer.

Die Wahrnehmung von Zeit findet sich auch in der Struktur des Romans wieder: Der erste Teil umfasst einen Nachmittag und Abend, im zweiten ver­gehen zehn Jahre, in denen der Erste Weltkrieg das Land und die Bevölkerung emotional verwüstet. Auch Andrew, der älteste Sohn des Hauses, fällt. Ebenso sterben Tochter Prue und Mutter Ramsay. Woolf illustriert das gnadenlose Vergehen der Zeit mit dem zunehmenden Verfall des Sommerhauses, das während der zehnjährigen Absenz der Ramsays Wind und Wetter ausgesetzt ist. Der dritte Teil beschreibt wieder ausgedehnt einen Vormittag, an dem die Ausfahrt zum Leuchtturm gelingt, was die Emotionen seiner widerwilligen Teilnehmer gründlich aufwühlt.

Für ihre Hörspielbearbeitung hat Gaby Hartel den Text neu übersetzt. Dabei destilliert sie die Gedankengänge der Figuren, dass sie ihnen mitunter Sätze in den Mund legt, die so im Roman gar nicht auftauchen – aber in ihrer Essenz dem Text genau entsprechen. Sie setzt damit Kontrapunkte zur Geschwindigkeit des Bewusstseinsstroms, die die Regisseurin Katja Langenbach in geschickt übereinander geschichteten Passagen, mal ineinander, mal gegeneinander laufen lässt und die aufmerksames Hören erfordern. Die drei Erzählstimmen spiegeln harmonisch aufeinander abgestimmt die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Gefühle der Protagonisten: von melancholisch-nüchtern (Irina Wanka) über brüchig-nostalgisch (Wiebke Puls) bis hin zu leidenschaftlich-trotzig (Zoe Hutmacher).

Einigen Protagonist*innen hat die Komponistin Ulrike Haage ein Leitmotiv auf den Leib geschrieben, ihre Miniaturen lassen zeitgenössische klassische Werke anklingen, führen aber weiter in den psychologischen Kosmos der Figuren. Das Thema, das Mrs Ramsay illustriert, ist auch nach ihrem Tod im zweiten und dritten Teil des Hörspiels zu hören, wenn sie in den Gedanken der Haushälterin Mrs McNab oder der Malerin Lily Briscoe auftaucht.

Langenbach, die mit Hartel bereits „Jacobs Zimmer“ und „Orlando“ von Virginia Woolf vertont hat, webt aus diesen Versatzstücken, Naturgeräuschen und Zitaten englischer Gedichte ein atmosphärisches dichtes Hörspiel – eine meisterliche, moderne Adaption eines Meisterwerks der Moderne.

Sylvia Prahl

Virginia Woolf: „Zum Leuchtturm“. Hörspiel. Der Hörverlag, 2017. 3 CDs, 2 h 26 min

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen