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„Normal ist, dass man mit mehreren Sprachen aufwächst“

Wortgewalt Warum hat Englisch als Zweitsprache ein höheres Prestige als Türkisch? Die Linguistin Heike Wiese über Marktwert und Mythen der Mehrsprachigkeit

Foto: Steffi Loos
Heike Wiese

geboren 1966, ist Professorin für Deutsche Sprache der Gegenwart an der Universität Potsdam und Autorin des Buchs "Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht".

taz: Frau Wiese, in der Vergangenheit wurde es oft negativ gesehen, wenn Kinder neben dem Deutschen in der Familie auch Türkisch oder Arabisch sprachen. Woran liegt das?

Heike Wiese: Das liegt an zwei Aspekten. Im Bildungsbereich gab es die Idee, dass Mehrsprachigkeit ein Problem ist und man automatisch nicht so gut Deutsch kann, wenn man zu Hause noch eine andere Sprache spricht. Das stimmt nicht. Grundsätzlich wissen wir, dass das menschliche Gehirn darauf ausgerichtet ist, mehrere Sprachen zu lernen; das geht pro­blem­los. Es hat sogar positive Effekte. Der zweite Aspekt ist, dass wir in Deutschland etwas haben, das die Soziolinguistik den monolingualen Habitus nennt: die Idee, wir wären ein einsprachiges Land, es wäre normal, einsprachig aufzuwachsen, und alles andere wäre ein potenzielles Problem.

Ist Einsprachigkeit denn die Norm?

Nein. Weder ist Einsprachigkeit normal noch ist Mehrsprachigkeit ein Problem. Normal ist, dass man mit mehreren Sprachen aufwächst. Nach aktuellen Schätzungen spricht mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung regelmäßig mehrere Sprachen. Mehrsprachigkeit wurde auch in Europa lange als Teil der Normalität akzeptiert. Der monolinguale Habitus hängt mit der Bildung der Nationalstaaten zusammen. Damals kam die Idee auf, eine Nation wäre durch eine Sprache vereint. Das ist ein Konstrukt, das nicht den Tatsachen entspricht.

Mehrsprachigkeit gilt als erstrebenswert, wenn die zweite Sprache nicht Arabisch oder Türkisch, sondern Französisch oder Englisch ist. Wie kommt es dazu?

Das nennt man in der Soziolinguistik den unterschiedlichen Marktwert von Sprachen: Wie gut kann ich meinen sozialen Status durch bestimmte Sprachkompetenzen heben – oder leider auch senken? Sprachen, die regulär an Schulen gelehrt werden, Englisch, Französisch, Spanisch, zählen dabei mehr als andere. Dazu kommt die Frage, womit ich eine Sprache verbinde. Englisch verbinde ich in Deutschland in erster Linie mit Schulunterricht, mit Internationalität. Türkisch verbinde ich in erster Linie mit GastarbeiterInnen und ihren Nachkommen: einer Gruppe, die sozial eher ausgegrenzt wird, mit der ich niedrigeres Einkommen, niedrigere Bildung assoziiere. Das wertet die Sprache ab.

Hat sich an dieser Wahrnehmung etwas geändert in den vergangenen Jahren?

Ich denke, dass große Anstrengungen unternommen wurden, mehrsprachige SchülerInnen stärker zu berücksichtigen. Damit hat auch ein Einstellungswechsel stattgefunden. LehrerInnen sind sich bewusster, dass Kinder, die von Zuhause aus mehrsprachig sind, zusätzliche Sprachkompetenzen mitbringen und nicht automatisch ein Deutschdefizit. Das ist eine sehr positive Entwicklung, die wir weiter unterstützen sollten. Interview Elisabeth Kimmerle

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