Arbeitskräftemangel in Deutschland: Weiblich, Mutter, gerne älter
Firmen suchen händeringend nach Azubis und Fachkräften. So ergeben sich neue Chancen für Mütter, Geflüchtete und Studienabbrecher.
![Syrische Flüchtlinge bei einer Bildungsmaßnahme der Handwerkskammer Syrische Flüchtlinge bei einer Bildungsmaßnahme der Handwerkskammer](https://taz.de/picture/1689445/14/b3aff78d6ad1b6acd7ec8ee4b9b1f198_edited_58490844_febc369206.jpeg)
„Die beiden arbeiten jetzt 20 Stunden die Woche bei uns, daneben gehen sie zur Schule“, erzählt Büttner. Das Jobcenter stockt das Gehalt auf und zahlt die Gebühr für die Altenpflegeschule. Vier Jahre dauert die nebenberufliche Ausbildung zur „Examinierten“. Die Frauen wissen durch die praktische Arbeit, was auf sie zukommt. „Die Älteren bleiben eher“, sagt Büttner. Junge examinierte AltenpflegerInnen wechseln hingegen oft schon nach wenigen Jahren den stressigen Beruf.
Gerne weiblich und Mutter, gerne älter – Hauptsache die Motivation stimmt: Viele kleine und mittlere Unternehmen suchen wie Büttner nach neuen Wegen, um Auszubildende und Fachkräfte zu finden. Angesichts des Bewerbermangels „geraten neue Zielgruppen in den Blick“, sagt Dirk Werner, Leiter des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung des arbeitgebernahen Instituts für Wirtschaftsforschung (IW) in Köln. Die Berater geben Mittelständlern Tipps, wie sie unter Schulabgängern, Älteren, Frauen, Arbeitslosen und Studienabbrechern geeignetes Personal rekrutieren.
Gerade für kleinere Betriebe sind Bewerberinnen und Bewerber rar geworden. Das liegt am Geburtenrückgang und an der Tatsache, das junge Leute heute lieber Abitur oder Fachabitur machen und studieren, statt sich die Mühen einer betrieblichen Ausbildung anzutun. Allein in Bayern rechne man für das Jahr 2030 mit einer Lücke von 400.000 Fachkräften, sagt Hubert Schöffmann, bildungspolitischer Sprecher der bayerischen Industrie- und Handelskammern. Zu allermeist werden in Zukunft beruflich Qualifizierte fehlen, weniger die Akademiker.
Weiterbilden während der Arbeit
Auf der Suche nach neuem Fachpersonal für Firmen wirbt die Bayerische Industrie- und Handelskammer für „Teilzeitausbildungen“ – einen Bildungsgang, der sich an Alleinerziehende wendet, schildert Schöffmann. Dabei arbeiten und lernen die Teilzeitauszubildenden 20 bis 25 Stunden die Woche in einem ganz normalen Ausbildungsberuf. Die Teilzeitvergütung wird durch öffentliche Mittel aufgestockt.
Azubimangel: Im Herbst 2016 waren in Deutschland noch 43.500 Ausbildungsstellen unbesetzt. Dem standen 20.600 unversorgte BewerberInnen gegenüber, diese Lücke wächst. Probleme, geeignete Lehrlinge zu finden, haben vor allem kleinere Unternehmen in ländlichen Regionen, darunter Berufsfelder mit Schichtarbeitszeiten.
Aussichten: Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) erwartet für das Jahr 2035, dass die Zahl der Absolventen mit Hoch- und Fachhochschulausbildung ausreichen wird, um die Nachfrage der Arbeitgeber zu befriedigen. Zunehmende Engpässe dagegen werden in qualifizierten Bauberufen, technischen Berufen und bei den Gesundheitsberufen erwartet. (bd)
Die Industrie- und Handelskammer in Bayern bietet auch „Teilqualifizierungen“ an: berufsbegleitende Weiterbildungen für Beschäftigte ab 25 Jahren, die keinen Berufsabschluss haben. Dabei ist man als Hilfskraft berufstätig und damit verdient Geld – absolviert aber nebenbei Ausbildungsmodule, für die es nach einer Prüfung einen Schein von der Kammer gibt. So werden zum Beispiel BürohelferInnen, Berufskraftfahrer oder KellnerInnen „teilqualifiziert“. Das ist auch für Geflüchtete attraktiv, die möglichst schnell Geld verdienen und sich nebenbei weiterbilden möchten.
Im Jahr 2017 seien einige Pilotprojekte für Flüchtlinge geplant, etwa die Teilqualifizierung als Berufskraftfahrer oder Fachkraft für Lagerlogistik, berichtet Schöffmann. Das Handwerk dagegen sieht solche Teilqualifizierungen kritisch und setzt mehr auf die traditionelle Berufsausbildung. Denn das Risiko ist groß, mit einer Teilqualifizierung am Ende doch nur in einer Art besserem Hilfsjob hängen zu bleiben.
Der Schritt in eine langjährige traditionelle Ausbildung ist für viele Flüchtlinge allerdings erst mal zu groß. Wer im Heimatland vielleicht nur einige Jahre die Schule besucht hat und aus einem ganz anderen Sprachraum kommt, braucht in der Bundesrepublik oft jahrelange Vorbereitung durch Sprachkurse und Schulunterricht – und kann nicht mal eben das Curriculum einer Berufsausbildung in einer hiesigen Berufsschule absolvieren.
Unternehmen bieten Nachhilfe- und Vorbereitungskurse
Deshalb machen derzeit auch nur 2.500 Flüchtlinge bundesweit eine traditionelle Ausbildung in Handwerksbetrieben. Sehr viel mehr der Neuankömmlinge sind mit Sprachkursen, Praktika und Einstiegsqualifizierungen beschäftigt. Flüchtlinge seien eher „die Fachkräfte von übermorgen“, sagt Schöffmann.
Schulabgängerinnen und Schulabgänger können sich die Unternehmen aussuchen. Die meisten wollen zu den großen Firmen. In München habe man wegen der Konkurrenz durch die Großunternehmen „Probleme, Auszubildende für den Handel zu finden“, sagt Angela Eder, Geschäftsleiterin des Dienstleisters Eder GmbH. Das Unternehmen bietet den Auszubildenden Nachhilfekurse und Prüfungsvorbereitungen für die Berufsschule, so dass alle Schüler am Ende auch den Abschluss schaffen. Der BewerberInnenmangel habe sich verschärft, weil immer mehr junge Leute studieren wollten statt eine berufliche Ausbildung zu beginnen, sagt Eder.
Der Ansturm auf die Universitäten produziert eine hohe Zahl von StudienabbrecherInnen, in den Naturwissenschaften sind es um die 40 Prozent. Nach dem Abbruch des Studiums werden diese Leute dann wieder zu einer interessanten Zielgruppe für die Rekrutierung von Ausbildungskandidaten der Unternehmen. Die Kölner Experten vom Kompetenzzentrum raten den Firmen in ihren „Handlungsempfehlungen“ deutlich zu machen, dass man auch an „Personen mit ‚Umwegen im Lebenslauf‘ interessiert“ sei und „ihnen eine Chance zur Neuorientierung“ biete.
Gerade in den Mangelberufen sind die Zugeständnisse der Arbeitgeber groß. Büttner von der Diakonie-Sozialstation in Berlin erzählt von einer Pflegerin, die getrennt ist und sich die Familienarbeit mit dem Expartner wochenweise teilt. Die Frau hat eine halbe Stelle. In der Woche, wenn der Mann die Kinder betreut, arbeitet sie durch. Dann hat sie eine Woche frei. In vielen Unternehmen hätte eine getrennte Mutter mit Kindern und kompliziertem Teilzeitwunsch früher keine Jobchance gehabt.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Tod von Gerhart Baum
Einsamer Rufer in der FDP-Wüste
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss
Jens Bisky über historische Vergleiche
Wie Weimar ist die Gegenwart?