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Aufbruch im Untergang

Essay Vergleiche aktueller Migration mit spätantiker Völkerwanderung unterschätzen die Antike

StefaN ESDERS

Mit Geert Wilders, dem Un­seligen, fing alles an: Die aktuelle Migrationsdebatte und die spätantike Völkerwanderung miteinander zu verknüpfen, heißt aus der Geschichte lernen! War das alte Rom in seiner ganzen Dekadenz nicht Horden von halb nackten Germanen erlegen, die es zuvor bereitwillig auf sein Gebiet gelassen hatte? In einer 2011, passenderweise in Rom gehaltenen Rede ließ Wilders keinen Zweifel: Zuwanderung zerstört Europa, ganz so, wie sie einst das Imperium Romanum dem Untergang geweiht hatte.

Am 31. Dezember 406 fror der Rhein zu, Tausende Germanen überquerten ihn und überrannten die Römerprovinzen Germaniens, Galliens und Spaniens. 410 eroberte „man“ Rom. Die Meistererzählung schien sich nun unaufhaltsam fortzusetzen: 429 war es um Nordafrika geschehen, 476 wurde in Ravenna der letzte weströmische Kaiser abgesetzt, 568 marschierten die Langobarden in Italien ein – das finstere „Mittelalter“ begann.

Als im vergangenen Jahr die aktuelle Migrationsdebatte die Mitte der deutschen Gesellschaft eroberte, glaubten nicht einmal Fachhistoriker der Versuchung widerstehen zu können, Analogien zu früheren Mi­gra­tions­vor­gän­gen zu ziehen – bot doch die Antike den argumentativen Vorteil, dass das Ende der Entwicklung absehbar schien und den „endgültigen“ historischen Beweis lieferte, dass so etwas von so was kommt. Alexander Demandt, ausgewiesener Experte für die Geschichte der Spätantike, hatte 1984 in einem atemberaubenden Werk über den „Fall Roms“ 210 verschiedene Ursachen zusammengestellt, die man in Jahrhunderten historischer Forschung für den Untergang des Römischen Reiches verantwortlich gemacht hatte; sie reichen von „Wirtschaftskriminalität und „Fiskalismus“ über „Sklaverei“ und „fehlende Männerwürde“ bis hin zu „Christentum“ und „Weltflucht“. 30 Jahre später, zur zweiten Auflage, waren schon 17 weitere hinzugekommen, der Untergang Roms war und blieb sein Lieblingsthema. Die Ereignisse der Gegenwart schienen ihm Grund zu geben, nun alles auf eine von 227 Karten zu setzen und den Fall Roms fast schon monokausal aus der antiken Völkerwanderung zu erklären.

Die nachfolgende Diskussion schürte Zweifel. Dass etwa die antike Völkerwanderung durch Überbevölkerung ausgelöst worden sei, ist schon für die Antike nicht zu belegen, obschon bereits antike Autoren sich in ihrer Polemik gegen die Fremdlinge ebendieses Argumentes bedienten: Ein quantitatives Menschsein bedroht unsere qualitativ hochwertige Lebenskultur, und zwar permanent, weil in ungebändigter Fortpflanzungsfreude dauernd neue Barbaren nachwachsen. Moderne Forschung hat schon lange den literarischen und topischen Charakter solcher Texte erkannt, die es daher mit kritischer Vorsicht historisch auszuwerten gilt und deren Aussagen schon gar nicht mit der antiken Wirklichkeit verwechselt werden dürfen. Dass beispielsweise die Goten ein chronisch überbevölkertes Skandinavien oder Gotland verließen, fällt doch einigermaßen schwer zu glauben, müsste sich vielleicht doch wenigstens archäologisch bestätigen lassen.

Im Laufe der nun bald einjährigen Diskussion mehrten sich die Bedenken: Fast 200 Jahre Völkerwanderung, vom Hunnensturm 375 bis zur langobardischen Invasion Italiens im Jahr 568? Manch moderner Zeitgenosse war des Themas Migration bereits nach einem Jahr überdrüssig! Eine Weltverschwörung germanischer Migranten führte zum Ende des Imperium Romanum?

„Die Germanen“ waren allenfalls eine nuschelnde Sprachgemeinschaft, verdroschen sich ansonsten aber am liebsten gegenseitig. Als die Römer im Jahr 451 auf den Katalaunischen Feldern die Hunnen besiegten, kämpften auf römischer Seite die West-, auf hunnischer Seite die Ostgoten. Diese Schlacht und ein paar weitere Kleinigkeiten wie die Reconquista des oströmischen Kaisers Justinian sollten Warnung genug sein, nicht mit dem Weltgeist im Rücken lineare Entwicklungen über mehrere Jahrhunderte zu ziehen und alles scheinbar Widersprechende platt zu bügeln – wer würde es heute wagen, die 200-jährige Entwicklung von der Französischen Revolution zum Mauerfall über denselben Leisten zu ziehen? Und dass das Römische Reich in seinem östlichen Teil mit der Reichshauptstadt Konstantinopel noch bis 1453 weiterbestand und sich jahrhundertelang mithilfe seiner integrierten Migranten erfolgreich gegen Araber, Bulgaren, Seldschuken und sogar westliche Kreuzfahrer zu verteidigen verstand, wen kümmert es?

Für wen im Jahr 476 „der Westen“ unterging, für den tat sich für „den Osten“ notgedrungen zeitgleich die neue, orientalisierende Schublade „Byzanz“ auf. Unser gängiges Epochenschema Antike–Mittelalter– Neuzeit diente immer schon der westlichen Selbstvergewisserung; für sie war der Rückgewinn der ganz abrupt, wie man seit der Renaissance glaubte, verloren gegangenen Antike ein Schlussstein des mühsam aufgetürmten und in den Universitäten seit dem 19. Jahrhundert allerorten verankerten Epochengebäudes.

Stefan Esders

Jahrgang 1963, seit 2006 Professor für die Geschichte der Spätantike und des frühen Mittelalters an der Freien Universität Berlin, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Fragen der Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter.

Wenn solche Diskussionen über decline and fall am Ende vielleicht doch etwas Gutes haben, so könnte dies darin liegen, vermehrt über die Produktivität der antiken Kultur gerade im Zeitalter ihres vermeintlichen „Verfalls“ nachzudenken. Die paar Hunderttausend Germanen stellten zwar nur einen verschwindend kleinen Teil jener 30 bis 60 Millionen Menschen umfassenden Bevölkerung des Römischen Reiches dar, aber sie spielten eine bedeutende Rolle im Heer, und ihre großenteils erfolgreiche Integration generierte „hy­bri­de“ Gebilde, die sich teils als äußerst langlebig erwiesen. Die Könige der Goten, Burgunder, Franken und Langobarden, die sich von Offizieren des spätrömischen Heeres zu Monarchen über eigene Reiche emanzipierten, erhoben Steuern, fertigten Urkunden, versammelten die Bischöfe ihres Reiches, errichteten Kirchen und Klöster und anderes mehr – all dies taten sie nach dem Vorbild des römischen Imperiums, und sie konnten es nur tun, weil sie weiterhin auf römische Strukturen zurückgreifen konnten, die im lokalen Rahmen vielerorts weiterlebten, auch ohne den Kaiser. Und sie hatten sich mit der römischen Provinzbevölkerung zu arrangieren, die in ihren Reichen die große Bevölkerungsmehrheit ausmachte.

Als erstmals im Jahr 376 die von den berittenen Hunnen bedrängten Westgoten auf römischem Reichsgebiet angesiedelt wurden, war das schon unter Zeitgenossen ein umstrittener Vorgang. Manche prognostizierten den Untergang, verlangten, man solle die Barbaren verjagen; andere, wie der Rhetoriklehrer Themistios, hießen sie willkommen. Dass die Goten damals mit dem Christentum bereitwillig die Leitkultur des Römischen Reiches annahmen, haben gerade die bedeutendsten Historiker ihrer Zeit verschwiegen, während andere dies als Scheinchristianisierung diffamierten. Auch denjenigen, die heute Parallelen zwischen spätantiker Völkerwanderung und gegenwärtiger Migration ziehen möchten, ist dieser Sachverhalt zumeist allenfalls eine Fußnote wert. Wer jedoch den heute in Uppsala verwahrten Codex Argenteus aus der Zeit um 500 bestaunt, einen purpurnen, mit goldenen und silbernen Buchstaben verzierten Prachtcodex jener Bibel, die der gotische Bischof Wulfila im 4. Jahrhundert aus dem Griechischen ins Gotische übersetzt hat, mag erahnen, wie hart auch in spätrömischer Zeit Integration erkauft war: Erst einmal musste ein Alphabet erfunden werden, um das Gotische zu einer Schriftsprache zu erheben, nur so konnte kultureller Transfer gelingen – kurz- ebenso wie langfristig, wenn man bedenkt, dass das Gotische auf der Krim noch über Jahrhunderte geschrieben und bis ins 16. Jahrhundert gesprochen wurde. Unsere heutigen Schriftsprachen, das Deutsche ebenso wie das Englische und die slawischen Sprachen, verdanken ihre Entstehung genau solchen Akkulturationsprozessen und die romanischen Schriftsprachen der nachlassenden Dominanz des spätantiken Lateins.

Die aktuelle Geschichtsforschung gilt denn auch nicht mehr dem Untergang des Römischen Reiches, sondern den vielfältigen, bis in unsere Gegenwart spürbaren, äußerst schöpferischen Transformationen der Antike während des Zeitraumes vom 4. bis manchmal ins 9. Jahrhundert. Für einen abrupten Bruch ist in dieser Sicht aktueller Geschichtsforschung kein Platz mehr. Anders aus­gedrückt: Wer den Untergang des (West)rö­mischen Reiches postuliert und danach nur noch Antikereminiszenzen und gesunkenes Kulturgut zu erkennen glaubt, der unterschätzt paradoxerweise gerade die Bedeutung und Nachwirkung jener Antike, mit der er oder sie sich so positiv identifiziert.

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