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Geisterbeschwörung

Graphic Novel Wie lässt sich von einem Leben erzählen, das kaum Spuren hinterließ? In der Ausstellung „Redrawing Stories from the Past“ geht es um neue Narrative und Vermittlung von Geschichte der NS-Zeit

von Christina Steenken

Die Geschichte beginnt, als gäbe es keine Geschichte: „Augen: keine Angabe. Nase: keine Angabe. Mund: keine Angabe. Haare: keine Angabe.“ Ein Foto gibt es nicht, es ist als habe es den Menschen Mohamed Kaci nie gegeben.

Die Comic-Künstlerin Paula Bulling hat für ihren Beitrag zum Ausstellungsprojekt „Redrawing Stories from the Past“ in der Neuköllner Galerie im Saalbau viele Akten in Archiven zur Zeit des Nationalsozialismus gewälzt und ist dabei auf den Namen Kaci gestoßen. Ein kleiner Bericht in einem Buch über arabische Inhaftierte in den nationalsozialistischen Lagern nennt den Namen des Algeriers. Bulling hat weiter recherchiert und mehr Informationen über den Insassen mit der Nummer 78893 F zusammengetragen. Ein Gesamtbild zu erstellen, gelingt zwar nicht, dafür fehlen zu viele Angaben zum sozialen und politischen Hintergrund, doch trotzdem: In ihrem Comic „Tamgout, Buchenwald, Paris“ macht Bulling sich auf die Suche nach der Geschichte von Mohamed Kaci – einem Mann, der vergessen wurde.

Vergessene Geschichten vom Holocaust und den Opfern des Nationalsozialismus in zeitgenössischen Erzählformen zu erzählen, ist die Idee des Projekts „Redrawing Stories from the Past“, das von den Kuratoren Elisabeth Desta und Ludwik Henne initiiert wurde. Hierfür begaben sich fünf Künstlerinnen und Künstler aus ganz Europa auf Spurensuche und erarbeiteten Graphic Novels und Comics. Die den Comics zugrunde liegenden Ereignisse und Biografien wurden während des Projekts gefunden und dann recherchiert, wobei vor allem wenig bekannte Dinge und Ereignisse zur Sprache kommen.

So beschäftigt sich etwa Zosia Dzierżawska aus Polen in ihrer Erzählung „Bricks/Ziegelsteine“ mit der Stadt Warschau, die von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg bewusst zerstört wurde, um danach ein „Neues Warschau“ entstehen zu lassen. Von ihr bekommt der Besucher verschiedene utopische Versionen vom Stadtbild Warschaus vorgeführt, vor allem geht sie dabei auf die jüdischen Architektinnen und Architekten ein, die im Warschauer Getto lebten. Ganz anders arbeitet hingegen Mārtiņ Zutis aus Lettland, der für seine Comic-Arbeit einen winzigen Zeitungsartikel als Ausgangspunkt nimmt. Ihm genügt die Notiz über einen lettischen Lebensmittelhändler, der an die Jüdin Mirjama Kazdane Lebensmittel verkaufte. Mit Hilfe einer Art „Geisterbeschwörung“ erzählt der Comic aus Mirjamas Perspektive von der Verfolgung der lettischen Juden und erinnert an die Bedingungen der Bevölkerung Rigas, die ständig schlechter wurden.

Manche Häftlinge schafften es, im Lager an Stift und Papier zu gelangen

In zwei Workshops sind die Künstler mit den Experten für Geschichte und Comics Ole Frahm und Sascha Hommer zusammengekommen, um über den Nationalsozialismus und dessen Opfer zu diskutieren. Welche Narrative über den Holocaust kennen wir und welche sind uns entgangen? Wie erinnern wir? Gemeinsam mit Jugendlichen suchten die Teilnehmer nach vergessenen Geschichten und arbeiteten sowohl zum historischen Erzählen als auch zur Darstellung und dem Einsatz von historischem Material.

Dieser Thematik widmet sich ein ganzer Raum in der Galerie im Saalbau, der den Blick der Opfer des Holocausts in den Fokus rückt. Essenausgabe, Appell, Selektion, Vernichtung: Häftlinge wie Helga Weissová, Alfred Kantor oder Camille Delétang schafften es, im Lager an Stift und Papier zu gelangen, um Skizzen von ihren Erlebnissen im Konzentrationslager anzufertigen, die nun als Quellen und Arbeitsgrundlagen für die Künstler dienen und ausgestellt sind. Dass Comics nicht nur lustige Geschichten und sprachliche Einfachheit bedeuten, sondern auch ein geeignetes Mittel für die Darstellung anspruchsvoller Themen sein können, machen diese Beispiele deutlich. Die Ausstellung bietet so gerade für Jugendliche einen neuen Zugang zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust.

Galerie im Saalbau: Di.–So. 10–20 Uhr, bis zum 3. Januar 2016. Eintritt kostenloswww.redrawingstoriesfromthepast.com

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