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„Asylstandards sind nicht zu halten“

Realitätstest Die Grünen werden zu einer pragmatischeren Sicht beim Umgang mit Asylsuchenden kommen müssen, sagt Tübingens Bürgermeister Palmer. Dazu gehörten auch Einschränkungen von Flüchtlingsrechten

Flüchtlinge am Bahnhof von Freilassing Foto: Kerstin Joensson/ap

Interview Anja Maier

taz: Herr Palmer, „politisch Verfolgte genießen Asyl“– darauf haben sich die Grünen immer bezogen. Gilt das noch angesichts 1 Million Flüchtlinge?

Boris Palmer: Ja, aber wenn dieses Jahr wirklich zwanzigmal mehr Flüchtlinge zu uns kommen als noch 2010, sind wir gezwungen, zu unterscheiden zwischen denen, die vor Krieg fliehen und um ihr Leben fürchten, und denen, die bei uns ein besseres Leben suchen. Wir können die Aslystandards nicht halten.

Sie sind grüner OB in Tübingen. Wie ist denn die Situation in Ihrer Stadt?

Die Kreissporthalle ist bereits belegt. Wir sind dabei, Unterkünfte zu requirieren, also Hallen umzunutzen und mit Heizungen auszustatten. Ich bin noch nicht sicher, ob es uns gelingt, im Winter ohne Zelte auszukommen. Deswegen habe ich schon mal vorsorglich auf das Polizeigesetz hingewiesen, dass es möglich ist, leerstehende Häuser zu beschlagnahmen.

Der Bundesinnenminister hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der für Asylsuchende große Härten bedeuten würde. Gutscheine, Residenzpflicht, vor allem mehr sogenannte sichere Herkunftsländer. Die Grünen sind im Bundesrat in einer mächtigen Position. Wie sollten sie die nutzen?

Verantwortlich. Auf keinen Fall dürfen wir blockieren. Deutschland braucht jetzt passende Lösungen, um mit dieser riesigen Zahl von Flüchtlingen umzugehen. Wir erleben gerade, dass rings um uns die Länder Europas überfordert sind. Das hat auch damit zu tun, dass so viele Menschen von Deutschland motiviert wurden, die Reise hierher anzutreten. Jetzt müssen wir uns eingestehen, dass auch die deutsche Gesellschaft an eine Belastungsgrenze kommt. Deshalb brauchen wir schnellere Verfahren, den Abbau falscher Anreize und eine klare Priorität für Kriegsflüchtlinge.

Mehr sichere Herkunftsländer – ja oder nein?

Die Schmerzgrenze der Gesellschaft wird sich bald zeigen

Eindeutig ja. Auch europaweit. Wir können es uns nicht leisten, 40 Prozent der Asylplätze mit Menschen vom Balkan zu belegen, wenn Hunderttausende Kriegsflüchtlinge kommen.

Wollen Sie dafür verantwortlich sein, dass künftig Romafamilien abgeschoben werden?

Für die Roma kann man, wenn Verfolgung vorliegt, durchaus eine Lösung über Kontingente finden. Aber klar muss auch sein: Abschiebungen zu verhindern – was lange grüne Politik gewesen ist –, lässt sich in dieser Situation nicht mehr durchhalten. Wenn Abschiebungen nicht durchgeführt werden, ist das ein Zeichen an diese Menschen, dass es sich weiter lohnt, zu uns zu kommen.

Wo ist eigentlich die Schmerzgrenze der Grünen?

Die Schmerzgrenze der ganzen Gesellschaft wird sich bald zeigen. Es kommen eben nicht nur Akademiker. Wir werden einen harten Konkurrenzkampf erleben um Arbeitsplätze und -bedingungen, aber auch um Wohnraum mit dem unteren Fünftel der Gesellschaft.

Foto: dpa
Boris Palmer

43, ist seit 2007 grüner Oberbürgermeister von Tübingen. 2014 wurde er für eine zweite Amtszeit wiedergewählt.

Ist das Pragmatismus zuungunsten von Idealismus?

Ich beziehe mich da auf den Soziologen Heinz Bude: Wir sind derzeit in der Phase des Flüchtlingsidealismus – aber wir werden rasch feststellen, dass der nicht trägt. Denn er überfordert ganz Europa. Wir werden zu einer pragmatischen Sicht kommen müssen. Das ist für uns Grüne hart, denn das bedeutet, Einschränkungen von Flüchtlingsrechten hinnehmen zu müssen. Aktuell erleben wir, wie die Zeit alte Überzeugungen hinwegfegt, konservative Vorstellungen vom Staatsvolk genauso wie grüne Mitmenschlichkeitsideale.

Die Grünen als Mehrheitsbeschaffer restriktiver Flüchtlingspolitik in Zeiten zunehmender Fremdenfeindlichkeit. Wie wollen Sie das Ihrer Basis vermitteln?

Wir Grünen stehen wieder vor einem Realitätstest. Der wird mit Sicherheit hart. Aber ich bin sicher, dass die Menschen uns andernfalls fragen werden, welche Lösungen wir für die Integration dieser Menschen anzubieten haben. Wenn da unsere Antwort ist: wir schaffen die Bedingungen dafür, dass noch mehr kommen, wird uns das keiner abnehmen. Derzeit sind über 70 Prozent der Flüchtlinge junge Männer, die ganz andere Vorstellungen von der Rolle der Frauen, der Religion, Meinungsfreiheit, Homosexualität oder Umweltschutz in der Gesellschaft haben als wir Grüne. Machen wir uns nichts vor: die Aufgabe ist riesig.

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