piwik no script img

Von reiner Kulturpflege emanzipiertIm Deutschen Haus in Almaty

Wiedergeburt heißt die Organisation der deutschen Minderheit in Kasachstan. Ihr Ziel: Perspektiven vor Ort zu bieten.

Kasachstan: Jagd mit dem Steinadler Bild: dpa

Der Chauffeur wischt sich erleichtert den Schweiß von der Stirn. Geschafft! Nach endlosen Meilen Beton, Fein- und Grobstaub sehen wir es: das Deutsche Haus in Almaty, Exhauptstadt der Exsowjetrepublik Kasachstan. Ein klitzekleiner Vorgarten, liebevoll gepflegt. Grünes Gras, leuchtend bunte Blumen. Ein Hauch von Romantik achttausend Kilometer east of Germany.

Ich bin eine Stunde zu spät. Nadeshda Burluzkaja, die Vorsitzende des ein paar tausend Mitglieder zählenden Verbandes der Deutschen Jugend Kasachstans, steht lachend vor der Tür: „willkommen deutsche Pünktlichkeit!“ … Vorurteile sterben nicht, sie verblassen nur. Nadeshda zeigt mir das Haus, das seit 14 Jahren im kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Leben der deutschen Minderheit Kasachstans eine zentrale Rolle spielt und zu einer wichtigen Brücke zwischen Deutschland und Kasachstan geworden ist. Die Organisation der deutschen Minderheit Kasachstans „Wosroshdenie“ (Wiedergeburt) residiert hier, die Friedrich-Ebert- Stiftung, die Redaktion des zweisprachig erscheinenden Wochenblatts Deutsche Allgemeine Zeitung, die GTZ ...

Stimmengewirr in allen Räumen: Man diskutiert, lacht, streitet und verhandelt. Auf Russisch und Deutsch. Stolz präsentiert man die Fotos im Gang, Erinnerungen an die Besuche bekannter Politiker im Deutschen Haus, darunter Roman Herzog, Joschka Fischer und Cem Özdemir. „Mir gefällt vieles in Deutschland sehr gut, die saubere Luft, die pünktlichen Züge, behindertengerechte Einrichtungen, behindertengerechte Transportmittel“, schwärmt Nadeshda Burluzkaja. Deutschland kennt sie sehr gut. Sie sei oft in Deutschland, zu Verhandlungen mit Projektpartnern wie den Euro-Schulen Bitterfeld- Wolfen oder der GTZ. Sie hat zahlreiche Kontakte zu deutschen Politikern, liest regelmäßig deutsche Zeitungen, etliche Verwandte lebten in Deutschland.

Bei so viel Begeisterung für Deutschland ist die Frage nicht abwegig, ob sie nicht an Ausreise gedacht habe. Nein, wehrt sie ab, Deutschland sei schön für einen kurzen Aufenthalt, aber leben - leben! - könne sie nur in Kasachstan. „Ich will den Menschen helfen, in Kasachstan zu bleiben.“ Viele Kasachstandeutsche hätten idealistische Vorstellungen vom Land zwischen Rhein und Oder und erlebten einen unsanften Reality Check, wenn sie in Deutschland angekommen sind, wo sie dann häufig auf Hartz IV angewiesen seien. „Mir ist aufgefallen, dass viele Russlanddeutsche nach einer gewissen Aufenthaltsdauer in Deutschland ganz anders werden. Sie ändern sich um 180 Grad. Sie werden wild und aggressiv, verwenden eine vulgäre Sprache.“

Die meisten in Kasachstan lebenden Deutschen sind Wolgadeutsche, die 1941 von Stalin ins entfernte Kasachstan deportiert wurden, um einer Fraternisierung mit den „deutschen Aggressoren“ vorzubauen. 1763, also nach dem Siebenjährigen Krieg, waren tausende Deutsche von der Zarin Katharina der Großen durch Steuererlass und Kriegsdienstbefreiung ins Land geholt worden. Sie siedelten sich unter anderem an der unteren Wolga an. Nach der Oktoberrevolution 1917 erhielten diese Wolgadeutschen eine begrenzte Autonomie, lange Zeit war Deutsch ihre offizielle Amts- und Verkehrssprache. Doch der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941 führte zu einer dramatischen Verschlechterung der Position der Wolgadeutschen: Binnen weniger Tage wurden sie, zumeist in Viehwagen, nach Kasachstan und Sibirien deportiert. Viele kamen bereits auf dem Weg um. Wer in Sibirien oder Kasachstan ankam, wurde in Arbeitslagern interniert.

Russlanddeutsche wurden während des Zweiten Weltkrieges nicht zur Armee eingezogen. Durch Zwangsarbeit in der „Arbeitsarmee“, häufig in Bergwerken und hochgiftigen chemischen Anlagen, kamen viele ums Leben. Bis 1957 mussten sich Deutsche in Kasachstan, wenn sie ihre Ortschaft verlassen wollten, bei der Kommandantur melden. Wer dies nicht tat, musste mit Gefängnis bis hin zur Todesstrafe rechnen. Erst 1957 wurde diese Bestimmung abgeschafft. Nun erhielten auch die Deutschen Pässe und die Möglichkeit, eine Berufs- oder sogar eine Hochschulausbildung zu absolvieren.

Hochzeitsgesellschaft in Alamty Bild: dpa

1978 äußerten die Deutschen Kasachstans mit der Gründung des deutschen Theaters in Temirtau ihren Wunsch, ihre Kultur pflegen zu dürfen. Damitwar der Grundstein für die Gründung der Vertretung der deutschstämmigen Bevölkerung Kasachstans, „Wiedergeburt“, gelegt. Mittlerweile leben nicht mehr viele Deutschstämmige in Kasachstan. Waren es bei der letzten Volkszählung der Sowjetunion in 1989 noch 957.518, so sind es heute knappüber 200.000. Ihre Umgangssprache ist in erster Linie Russisch. Kasachstan-Deutsch kann in Deutschland kaum jemand verstehen.

„Heute setzt man sich bei „Wiedergeburt“ für Weiterbildung vor allem der Jugendlichen ein, organisiert Sprach- und EDV-Kurse, Ökotourismus, bietet Angehörigen der „Arbeitsarmee“ soziale Programme an, pflegt die deutsche Kultur,“ sagt Burluzkaja. „Viele Lieder haben wir mündlich von unseren Großmüttern gelernt, einige stehen auch in unseren Liederbüchern. Die meisten dieser deutschen Lieder sind in Deutschland unbekannt. Es sind russlanddeutsche Lieder, gespickt mit russischen Wörtern“.

Ein Großteil der Mittel von „Wiedergeburt“ stammt aus deutschen Steuergeldern, bei gleichzeitig kontinuierlich steigendem Anteil der Förderung durch die kasachische Regierung. So wird etwa die Deutsche Allgemeine Zeitung von der kasachischen Regierung finanziert. Auch Sonntagsschulen, einige Sozialprojekte, deutsches Theater und deutscher Rundfunk werden von der kasachischen Regierung gefördert. Der kasachisch- deutsche Unternehmerverband betätigt sich ebenfalls als Sponsor. Doch man ist nicht nur zufrieden über die Projektabwicklung mit deutschen Organisationen, wie ein „Wiedergeburt“-Funktionär einräumt. Man wolle mehr Entscheidungsfreiheit, sich nicht in Detailfragen Vorschriften der Geldgeber aus Deutschland machen lassen.

Die deutschstämmigen Kasachstans emanzipieren sich von der reinen Kulturpflege. Der Zugang zu Wirtschaft und Politik der Länder Kasachstan und Deutschland verschafft ihnen eine Vermittlerfunktion. Gute Beziehungen zu Politik und Wirtschaft Kasachstans sind für sie nicht minder wichtig wie gute Kontakte nach Deutschland. Als Bindeglied zwischen zwei Welten ist man fest entschlossen, diese Funktion auch wirtschaftlich zu nutzen. Mit neu gefundenem Selbstbewusstsein lehnt man eine einseitige Hinwendung nach Deutschland ab. Die Auswanderung nach Deutschland sieht man zunehmend kritisch. Zum Abschied frage ich Nadeshda Burluzkaja nach ihrem Lieblingsbuch. „Im Westen nichts Neues“ gibt sie ohne Zögern zur Antwort.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

1 Kommentar

 / 
  • MJ
    Martin Josefus

    Ein netter Artikel über das Deutsche Haus in Almaty, der den Lesern einen, wenn auch nur kleinen, Einblick in die Historie der Russland-Kasachstandeutschen gibt.

     

    Bolß sollte künftig auf unnötige Anglizismen wie "Reality Check" und "east of Germany" verzichtet werden. Insbesondere, wenn solche Artikel von (deutschen)Migranten aus den ehemaligen sowjetischen Staaten verstanden werden sollen.

     

    Im Übrigen, die im Artikel genannte Nadeshda Burluzkaja lebt schon längst in Deutschland