Regisseurin Sophie Narr über ihre Schuldoku: "Ein Stirnrunzeln erzählt einiges"
Sophie Narrs Dokfilm "Der Die Das" begleitet vier Schüler, die die erste Klasse einer Schule in Berlin-Wedding besuchen. Ein Gespräch mit der Regisseurin über Schnürsenkel und Hartz IV.
In diesem Film drückt auch die Kamera die Schulbank. Sie ist stets auf Augenhöhe der Schüler und scheint kein Fremdkörper im Unterricht. Aus nächster Nähe sieht man die Schwierigkeiten der Sechs- bis Siebenjährigen beim Buchstabieren, Lesen und Rechnen. Man geht mit ihnen auf den Schulhof, erlebt die ersten Konkurrenzkämpfe, aber eben auch die ersten zaghaften Freundschaftsversuche. Die meisten Kinder der Anna-Lindh-Grundschule in Berlin-Wedding kommen aus Migrantenhaushalten oder sogenannten sozial benachteiligten Familien. Monatelang hat Sophie Narr den Unterricht der Schulklasse 1e erst ohne und später mit der Kamera begleitet. Dieser rein beobachtende Film ist mehr als ein Kommentar zur deutschen Bildungs- und Einwandererpolitik. Der Zuschauer wird mitgenommen in den Alltag von Kindern, die tapfer den Anforderungen im Unterricht begegnen, aber auch gegen die Lebensumstände außerhalb der Schule kämpfen. In manchen Augenblicken scheint aus den Gesichtern der Schüler denn auch jegliche Kindlichkeit gewichen. Wenn man sie morgens mit schweren Ranzen auf dem Schulweg sieht, kommen sie einem wie kleine Helden vor.
taz: Frau Narr, das Klassenzimmer als Mikrokosmos - es heißt immer wieder, hier beginnen oder hier enden die Probleme einer Gesellschaft. Wie sehen Sie das?
Sophie Narr: Ich würde eher sagen, dass dort die Probleme beginnen. Alles beginnt doch in der ersten Klasse, oder? Man war vorher schon im Kindergarten und hat soziale Kontakte geknüpft. Aber Schule ist auf einmal eine Anforderung. Es geht plötzlich um Leistung. Und man muss reinpassen. Wenn man nicht reinpasst, gibt es Probleme.
Zu Beginn Ihres Films gibt es eine Vorstellungsrunde, doch viele der Kinder wissen gar nicht, woher sie kommen, welche Sprache zu Hause gesprochen wird. Haben die Kinder wirklich kein Bewusstsein für ihre eigene Nationalität? Oder wollen sie einfach nicht anders als ihre deutschen Mitschüler sein?
Das habe ich mich auch gefragt. Man hat ja immer die Vorstellung, dass man stolz sein sollte, wenn man mehrere Nationalitäten vereint. Wenn in einer Familie mehrere Sprachen gesprochen werden, ist das doch zweifelsohne ein Vorteil. Aber in diesem Umfeld, in dieser Klasse scheinen die Schüler sich keine Gedanken darüber zu machen. Auch die Lehrerin, die die Vorstellungsrunde initiierte, war sehr erstaunt, dass sich die Kinder dort zum ersten Mal mit ihrer Herkunft auseinanderzusetzen schienen. Aber vielleicht hat es auch damit zu tun, dass die Kinder einen Teil ihrer Identität vor dem Klassenzimmer ablegen müssen. Weil die Deutschkenntnisse vieler Kinder nicht der ersten Klasse genügen, soll in den Schulen nur noch Deutsch gesprochen werden. Als ich in Berlin-Kreuzberg in den Neunzigerjahren zur Schule gegangen bin, gab es noch das bilinguale Konzept für deutsch-türkische Klassen.
Warum haben Sie für Ihren Film die Perspektive der "Peanuts"-Cartoons gewählt? Wie in Charlie Browns Klasse sieht man fast nur die Schüler und hört die Lehrerin weitgehend aus dem Off.
Schon meinen ersten Kurzspielfilm habe ich aus Kinderperspektive gedreht, und es hat mich wahnsinnig fasziniert, was das für die Bilder und auch deren Wahrnehmung bedeutet. Auch für diesen Dokumentarfilm wollte ich ein klares visuelles Konzept. Deshalb haben wir alles auf die Augenhöhe der Kinder heruntergefahren, um das Klassenzimmer aus ihrer Sicht zu zeigen, zu erleben, wie sie dem Unterricht folgen. Die visuelle Abwesenheit der Lehrer hat sich aus der Kameraarbeit mit Anne Misselwitz ergeben. Wir haben festgestellt, dass es nicht nötig ist, die Erwachsenen zu filmen, weil sie durch ihre Worte, durch das, was sie vermitteln wollen, eigentlich immer anwesend sind. Es war viel interessanter zu schauen, wie die Kinder auf den Unterricht reagieren, ihre Gesichter zu zeigen. Ein Stirnrunzeln oder ein Grübchen können einiges erzählen.
Ihr Film wird auch zur Studie eines gewissen Unterrichtsjargons. Man merkt, dass die Lehrerin sehr geduldig ist, sich bemüht, den Kindern gerecht zu werden. Aber manchmal merkt man ihren Worten auch eine gewisse Ohnmacht an, der Situation gerecht zu werden.
Für mich spiegelt sich in dieser Sprache häufig die Überforderung wider. Aber was sollen die Lehrer auch anderes machen? Sie können sich letztlich auf die Probleme, mit denen sie konfrontiert werden, nicht einlassen. Das würde den Unterrichtsrahmen sprengen. Dann gibt es nun mal diese Floskeln: "Du lernst doch für dich und nicht für mich." Wenn ich mit Leuten spreche, die den Film gesehen haben, kennen sie alle, egal welcher Altersklasse, solche Redewendungen, Floskeln, die es schon vor Jahren gab und die sich nicht ändern. Natürlich fragt man sich da, wo die Modernisierungen bleiben, von denen stets die Rede ist.
Die Schüler geben sich jedenfalls sehr viel Mühe, dem Unterricht zu folgen. Die Kamera fängt immer wieder ihre konzentrierten Gesichter ein. Diese Ruhe im Klassensaal widerspricht so manchen Sensationsnachrichten über Migrantenklassen.
Als ich 2006 die Recherche für den Film anfing, ging die Rütli-Schule durch die Presse. Als ich die Artikel las, war ich ziemlich perplex, weil es überhaupt nicht meinen Erfahrungen entsprach. Letztlich fand ich diese Berichterstattung skandalös und auch gemein. Den Geschichten der Schüler, in diesem Fall der jugendlichen Schüler, wurde zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ich hingegen habe Kinder getroffen, die etwas lernen möchten. Aber warum ist bei einem sechsjährigen Kind die Bereitschaft dazu noch da und später auf einer Oberschule nicht mehr? Da muss doch irgendwas auf dem Weg passiert sein. Und es ist auf alle Fälle zu einfach, zu behaupten, dass es nur an den Migrantenfamilien liegt, die sich nicht anpassen wollen.
Ist es das, was Sie mit Ihrem Film möchten: Ihren Blick tatsächlich auf die Geschichten der Schüler lenken? Andererseits wäre es doch verkürzt, zu behaupten, dass man hier die Biografien zu den Schlagzeilen unserer Bildungspolitik geliefert bekommt.
Es ging darum zu zeigen, welche Last auf diesen kleinen Schultern schon liegt. Das sind ja teilweise sehr traurige Lebensgeschichten, aber um diese kennenzulernen, musste ich das Vertrauen der Kinder gewinnen. Zu Beginn hatten sie kein großes Interesse an mir. Warum auch? Ich bin keine Lehrerin und konnte ihnen im Unterricht nicht helfen. Um eine Beziehung zu Ihnen aufzubauen, habe ich sie dann von zu Hause abgeholt oder sie zum Hort gebracht. Wir haben uns gegenseitig Geschichten erzählt. Es waren oft Geschichten, die sie am Wochenende mit ihren Eltern oder Geschwistern erlebt haben. Dabei hat mich erstaunt, wie ernst sie manchmal schon sein können, was sie alles schon, wenn auch vielleicht unbewusst, über das Leben wissen. Bei meinem Film war mir dann eine Sache sehr wichtig: Wenn man ihre Geschichten weitergibt, muss man total aufpassen, dass man ihre Würde wahrt. Dass man ihre Geschichten eben nicht reißerisch ausschlachtet.
Ist "Der Die Das" also der Versuch, den Kindern einen Raum zu geben, in dem sich ihre Probleme artikulieren können? Einen Raum, denen ihnen weder die Schule noch das Elternhaus geben kann?
Ja. Dabei hätte ich auch mit langen Interviewpassagen arbeiten können. Oder auch bei ihnen zu Hause filmen können. Aber ich wollte von ihnen lieber durch Beobachtungen im Schulalltag erzählen, durch ihr Verhalten im Unterricht, auf dem Schulhof oder beim sogenannten Sprachstandstest. In dieser intimen Situation mit einem Erzieher sprechen sie plötzlich von ihren Sorgen, Ängsten und Träumen und stellen selbst Zusammenhänge her. Etwa wenn Laethicia erwähnt, dass sie noch nie einen Kuss bekommen hat, und im nächsten Satz erklärt, dass ihre Eltern Hartz-IV-Empfänger sind.
Gerade diese kleinen Alltagsepisoden haben etwas sehr Berührendes, etwa wenn Fuat minutenlang versucht, sich seinen Schuh zuzubinden, aber noch gar keine Schleife kann.
Aber er kann es jetzt. Nach der Vorführung des Films für die Klasse hat er mich beiseitegenommen und es mir ganz stolz erzählt. Dann haben wir uns beide sehr gefreut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!