Fanforscher über Fußballkultur: "Die Ultras haben Potenzial"
Oft werden sie als Idioten bezeichnet. Dabei ist die Ultra-Szene eine ernstzunehmende, jugendliche Protestbewegung, die für Freiheits- und Bürgerrechte streitet, findet Fanforscher Jonas Gabler.
taz: Herr Gabler, in Genua randalierten die "Ultra-Bojs" von Roter Stern Belgrad. Vorm Spiel der Eintracht in Kaiserslautern am Sonntag gibt es eine Ankündigung der Frankfurter Ultra-Szene, die einen "Pfalz-Überfall 2010" und ein "Schlachtfest" verspricht. Wie gefährlich sind Ultras?
Jonas Gabler: Man muss eine klare Unterscheidung zwischen den verschiedenen Szenen in den verschiedenen Ländern treffen. Die Szene auf dem Balkan oder in Italien hat nur wenig mit der in Deutschland zu tun. Natürlich ist es nicht so, dass wir es hierzulande mit Heiligen in der Fankurve zu tun hätten, die gänzlich auf Gewalt verzichten, aber die hiesigen Gruppen sind doch gemäßigter.
Wie verträgt sich das mit einem Aufruf zum Schlachtfest?
Gewalt und Provokation sind auch hier Teil der Ultra-Fankultur, das ist schon richtig, aber es führt zu nichts, wenn man Ultras und Hooligans in einen Topf wirft und Frankfurter Fans mit Schlägern aus Serbien gleichsetzt. Das wäre Unsinn. Ultras sind ein Phänomen - und als solches sind sie zu betrachten, ganz unvoreingenommen.
Inwiefern unterscheidet sich die deutsche Ultra-Szene von der in Italien, dem Ursprungsland der Bewegung?
Man hat die Ausdrucksmittel kopiert, also die Art, im Stadion aufzutreten. Dann wurden die Organisationsformen übertragen, das Innenleben, zum Teil auch die Gewaltbereitschaft. Dennoch gibt es signifikante Unterschiede in den Einstellungen. Grundsätzlich könnte man sagen: Der deutsche Ultra ist vernünftiger, eher zur Kooperation bereit als einer aus Catania oder Mailand.
Aber man kann auch nicht die gesamte deutsche Szene über einen Kamm scheren. Sie ist sehr heterogen. Dennoch hat man kürzlich auf der Fandemo in Berlin gesehen, dass die Ultras bereit sind, sich mit sich und ihrer Gewaltbereitschaft auseinanderzusetzen. Das Reflexionsvermögen ist da. Man ist sich bewusst, dass die gesellschaftliche Isolation droht, wenn man nicht zu Kompromissen bereit ist. In Italien sind die Fronten für einen solchen Prozess viel zu verhärtet.
Der Politikwissenschaftler, 29, beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit der Fußballfanszene. 2009 erschien im Papyrossa-Verlag seine Diplomarbeit mit dem Titel "Ultrakulturen und Rechtsextremismus". Dieser Tage ist sein neues Buch "Die Ultras - Fußballfans und Fußballkulturen in Deutschland" herausgekommen.
Warum wollen Ultras nicht auf Gewalt verzichten?
Sie gehört seit jeher zum Fußball. Die Hooligans haben es in den Achtzigerjahren auf die Spitze getrieben. Bei ihnen war die Gewalt der Kitt, der die Gruppe zusammengehalten hat. Die Ultras stehen, was die Gewalt anbelangt, in gewisser Weise in der Tradition der Hooligan-Bewegung. Sie gehört einfach dazu, auch wenn es heute andere Mittel gibt, um Gemeinschaft zu stiften: die aufwändigen Choreografien, die Gesänge, insgesamt die kreativen Auftritte im Stadion.
Aber nach wie vor geht es darum, den Gegner zu demütigen, indem man ihn beschimpft und Plakate abnimmt, die aufwändig hergestellt wurden. Oder indem man ihn schlägt. Das spielt für viele Ultras auch eine Rolle. Ich sage bewusst: auch. Problematisch wird die Gewalt, wenn sie sich nicht auf andere, rivalisierende Ultras beschränkt, sondern Unbeteiligte trifft.
Die Ultra-Szene legt durchaus Wert darauf, nicht als Hooligans bezeichnet zu werden. Was unterscheidet beide?
Die Schnittmenge ist: Beide wenden Gewalt an. Aber der qualitative Unterschied liegt darin, dass es bei den Hooligans einzig und allein um Gewalt ging. Bei den Ultras gibt es reichhaltigen sozialen Austausch, da wird politisiert, da ist man kreativ, da wird diskutiert.
In Ihrem Buch adeln Sie die Ultra-Bewegung, indem sie sagen, dass man von einer jugendlichen Protestbewegung sprechen könnte, die für den Schutz der Freiheits- und Bürgerrechte und gegen die Ökonomisierung aller Lebensbereiche auftritt. Das kling ja ganz prima.
Das tut es wirklich. Auf alle Gruppen trifft es natürlich nicht zu, aber es gibt die positiven Beispiele, in Babelsberg etwa die "Ultras Babelsberg". Die "Schickeria München", die "Horda Azzuro" aus Jena, die "Coloniacs" aus Köln sind auch gute Beispiele - genauso wie "Ultra St. Pauli".
Fast alles Gruppen, die man dem linken Spektrum zurechnet.
Ja, dort gibt es den gesellschaftspolitischen Anspruch. Die unpolitischen Ultras richten den Fokus eher auf den Support. Aber meine Diagnose trifft sogar auch für eine Gruppe wie die "Harlekins" von Hertha zu, die sich nicht explizit politisch äußern, aber eben doch sehr breit zur Fandemo "Freiheit statt Angst" aufgerufen haben. Da tut sich was. Wäre es denkbar gewesen, dass vor 15, 20 Jahren Hooligans von Hertha, die "Hertha-Frösche", auf so eine Demonstration gegangen wären? Wohl kaum. In der Ultra-Bewegung steckt viel mehr Potenzial als in allen vorangegangenen Fanbewegungen. Diese Erkenntnis ist wichtig. Man darf sie nicht immer nur auf das Gewaltproblem reduzieren.
Die Öffentlichkeit tut das aber immer wieder. Zu Unrecht?
Sie sind jugendlich und überschreiten bisweilen Grenzen. Das stimmt. Aber es ist ja nicht so, dass sie eine Bestrafung nicht akzeptieren würden. Wer eine Schlägerei anzettelt und ein Stadionverbot bekommt, der wird das verstehen. Wer aber ein Stadionverbot aufgebrummt bekommt, weil er einen Aufkleber geklebt hat, der wird das nicht einsehen. Darum geht es der Bewegung, um ein Ende der Willkür, die sie zu ertragen haben. Die Ultras sagen: "Wir sind vielleicht nicht bequem, aber wir pochen dennoch auf eine faire Behandlung."
Aber wie soll man den Aufruf der Frankfurter, die ein Schlachtfest veranstalten wollen, anders deuten als eine Bedrohung für Leib und Leben?
Das ist zunächst einmal nur eine Provokation. Die Frankfurter haben ja auch auf YouTube einen Film eingestellt in der Ästhetik eines Splattermovies à la "Texas Chainsaw Massacre". Der martialische Aufruf geht damit einher. Es ist nicht nur ein Spaß, aber das Ganze wird jetzt viel heißer gekocht, als es dann gegessen wird. Die "Ultras Frankfurt" sind eine große Gruppe. Sie wollen ein bestimmtes Image transportieren, eine gewisse Nonkonformität. Da entstehen schnell mal moral panics. Aber ich würde sagen: Warten wir zunächst mal ab, was am Wochenende passiert.
Wie haben Sie als Forscher Zugang zu Ultras bekommen?
Das ist einfacher, als man denkt. Wenn die das Gefühl haben, man kennt sich aus und nimmt sie vor allem ernst, dann öffnen sie sich ganz schnell. Klar, erst einmal sind Ultras extrem skeptisch, mit jemandem von außen zu sprechen, weil sie oft die Erfahrung gemacht haben, dass man sie in die Pfanne haut. Aber selbst so problematische Gruppen wie die "Ultras Frankfurt" öffnen sich unter bestimmten Umständen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht räumt Irrtum vor russischem Angriff ein
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren