Stricken gegen Stress und Gedächtnisverlust: Positive Effekte fürs Gehirn
Handarbeiten fördern die Vernetzung neuronaler Zellen im Gehirn. Mit Stricken oder Häkeln kann schleichender Gedächtnisverlust im Alter gemildert werden.

München taz | Selbstgemachtes hat Konjunktur - Experten sprechen vom "Do-it-yourself-Boom". So wächst seit der Jahrtausendwende auch der Markt für Garn, Wolle und Stoffe. Laut dem Verband "Initiative Handarbeit" steigen die Umsätze jährlich um fünf bis zehn Prozent. Zwar wird Stricken, Sticken, Häkeln, Weben oder Nähen auch heute gerne noch von vielen Zeitgenossen milde belächelt - den Tätigkeiten haftet schließlich immer noch ein Öko- oder Hausmütterchen-Image an.
Doch mittlerweile beschäftigt sich sogar die Wissenschaft mit dem Thema und entdeckt Erstaunliches: Wer öfter mal die Nadeln klappern lässt, kann Stress bekämpfen und tut möglicherweise auch etwas für sein Erinnerungsvermögen.
So hat beispielsweise Yonas Geda, Hirnforscher an der Mayo Clinic in Rochester im US-Bundesstaat Minnesota, mehr als 400 Senioren zu ihren Freizeitbeschäftigungen befragt und diese mit dem Auftreten von milden Gedächtnisstörungen verglichen.
Das Ergebnis: Wer regelmäßig strickte, Bücher las oder Computer spielte, anstatt fernzusehen, hatte ein um 40 Prozent reduziertes Risiko für pathologische Gedächtnisverluste, eine Vorstufe der Alzheimer-Demenz. Der Effekt zeigte sich auch, wenn diesen Hobbys erst später im Leben nachgegangen wurde.
"Handarbeit scheint wie viele andere Freizeitbeschäftigungen positive Wirkungen auf Gehirn und Körper zu haben", meint auch Bruce McEwen, Neurologe an der Rockefeller University in New York, der selber schnitzt, um sich in stressigen Zeiten zu entspannen.
Zustand vollkommener Entspannung
Die Idee dahinter: "Wenn man eine Tätigkeit immer wieder ausübt, kommt man in einen Zustand vollkommener Entspannung wie bei Meditation oder Yoga", erklärt Herbert Benson, Gründer des Benson Henry Institute for Mind Body Medicine in Harvard.
So senkt Handarbeit ebenso wie die fernöstlichen Entspannungstechniken etwa die Pulsrate und den Blutdruck, zeigten erste kleine Studien an seinem Institut. Konkret: Stricken hat bei Probanden beispielweise den Herzschlag um elf Schläge pro Minute gesenkt. Im Gehirn werden zudem bei kreativer Arbeit die gleichen Areale, etwa im Hippocampus, aktiv wie bei Meditierenden oder Betenden, hat Herbert Benson mittels Kernspintomografie nachgewiesen. Der Hippocampus ist unter anderem Ort unserer Erinnerungen.
Auch für Heranwachsende ist der Handarbeitsunterricht ideal, um Lernpotenziale auszuschöpfen, meint Iris Kolhoff-Kahl, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Paderborn. Denn: "Häufigkeit, Relevanz und Ähnlichkeit einer Tätigkeit, wie es beim Handarbeiten der Fall ist, sind wichtig für die Vernetzung im Gehirn." Sie fordert daher, dass nicht nur Musikunterricht, sondern auch Handwerklichem und kreativ Gestalterischem wieder mehr Aufmerksamkeit in der Bildungsdebatte zukommen sollte.
Trotzdem warnt die Pädagogin vor zu viel Neuro-Euphorie: "Bislang ist alles graue Theorie, es gibt keine validen Arbeiten, die die spezifischen Effekte von Handarbeit auf das Hirn gemessen haben." Das schert die Praktiker unter den Medizinern wenig: So ist etwa in der sogenannten Ergotherapie Handarbeit schon lange Teil der Behandlung.
Und zumindest bei Essstörungen scheint die altbacken anmutende Freizeitbeschäftigung hilfreich zu sein: Drei von vier Magersucht-Patientinnen gaben in einer kleinen, kanadischen Studie aus dem Jahr 2009 an, dass Stricken ihre Ängste stark verringerte und sie beruhigte. Jede zweite sprach von Zufriedenheit, Stolz und dem Gefühl, etwas erreicht zu haben.
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