Roma in Tschechien: "Betet, dass sie sich nicht vermehren"
Im tschechischen "Schluckenauer Zipfel" ist die Stimmung schlecht. Zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der Roma-Bevölkerung häufen sich die Unruhen.
PRAG taz | Der Angriff kommt überraschend und von hinten: Ehe er sich versieht, liegt der Mann, der gerade noch ahnungslos an der Theke saß, hilflos auf dem Boden. Einer der Angreifer holt aus und schlägt nach, seine Machete zielt direkt auf den Kopf.
Ein weiterer prügelt indes auf die junge Frau hinter der Bar ein. "Ich hatte Angst um mein Leben", sagt sie später. Innerhalb kurzer Zeit ist der Spuk vorbei. Drei Minuten, drei Schwerverletzte. Die Auswirkungen des "Massakers von Novy Bor", wie der Vorfall inzwischen schon im Volksmund genannt wird, sollen noch lange andauern.
Niemand weiß genau, was das Prügelkommando an diesem Sonntagnachmittag Anfang August dazu gebracht hat, die Pivni Pomoc, eine Mischung aus Billigkneipe und Spielhölle in der Fußgängerzone des nordböhmischen Städtchens Novy Bor zu stürmen. Sie habe einen der Angreifer kurz zuvor aus der Kneipe geworfen, weil er sich weigerte, sein Alter auszuweisen, sagt die Barfrau.
Nein, sie habe sich geweigert, ihnen den Gewinn aus den Spielautomaten auszuzahlen, verteidigen sich die Angreifer, der jüngste von ihnen 15. Gefasst wurden sie schnell, jetzt drohen ihnen 12 Jahre Gefängnis. Und so könnte man diesen Vorfall als besonders brutale Kneipenschlägerei ad acta legen, wäre da nicht dieser eine hämische Satz: "Jetzt haben wir es diesen weißen Köpfen gegeben."
Mit dem "Massaker" hat sich eine ungeliebte Minderheit zurückgemeldet, die die tschechische Mehrheitsgesellschaft seit Jahren zu ignorieren versucht. "Sozial Unangepasste" nennt man sie in Zeitungsartikeln und Fernsehdiskussionen, "Parasiten" am Stammtisch oder auf der Straße. Oder einfach "cikani" - "Zigeuner".
Geschätzte 200.000 Roma leben heute in der Tschechischen Republik. Nachkommen derer, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Slowakei nach Böhmen und Mähren zogen, manche mehr, manche weniger freiwillig. Sie kamen, um die Grenzgebiete zu besiedeln, die nach der Vertreibung der Deutschen verlassen geblieben waren. "Man verbot ihnen das 'Zigeunerleben' und steckte sie in Plattenbauten und Fabriken", sagt Frantisek Kostlan von der NGO Romea, die das Leben der Roma in Tschechien dokumentiert. Nichtsdestoweniger denken heute viele Roma mit Nostalgie an das kommunistische Regime zurück.
90 Prozent Arbeitslose
Denn seit dessen Sturz hat sich ihre Lage zunehmend verschlechtert. Jobs, die sie früher unter der sozialistischen Arbeitspflicht verrichteten, machen heute Gastarbeiter aus der Ukraine oder der Mongolei. Und während sich unter den Roma die Arbeitslosigkeit breitmachte, derzeit liegt sie bei rund 90 Prozent, stiegen die Mietpreise nach der Privatisierung des staatlichen und städtischen Wohnungsfonds an. Gab es 1989 ein nur paar Roma-Viertel, so gibt es 2011 über 300 reine Roma-Ghettos.
Ohne Bildung - rund 50 Prozent der Roma-Kinder kommen automatisch in Sonderschulen für geistig Behinderte, eine Praxis, die europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2007 als diskriminierend verurteilte, und ohne Lobby werden die Roma zu Opfern ihrer eigenen Hilflosigkeit. Und zu Opfern derer, die aus dem inhärenten Antiziganismus der tschechischen Mehrheitsgesellschaft profitieren wollen: Immobilienspekulanten, die die Roma dafür bezahlen, ihre Wohnungen in lukrativeren Stadtvierteln zu verlassen, weil dann deren Marktwert steigt. 86 Prozent der Tschechen, so eine Umfrage, haben ein Problem mit dem Nachbar Rom.
Ambitiöse Lokalpolitiker, die wissen, dass die Mehrheitsgesellschaft Roma als "kriminell" pauschalisiert, verfrachten sie in Ghettos am Stadtrand. Nachdem der damalige Bürgermeister des Städtchens Vsetin, Jiri Cunek, 2006 die Bewohner eines ganzen Mietshauses in eigens gebaute Container neben der Kläranlage weit hinter den Ortsgrenzen verwies, wurde er mit einer überwältigenden Mehrheit von 71 Prozent in den Senat, das tschechische Oberhaus gewählt und schaffte es sogar zum Vizeministerpräsidenten. Die Regierung musste Cunek wegen eines Bestechungsskandals verlassen, den Ruf des rasanten Kämpfers gegen die "Kriminellen" genießt der Christdemokrat noch heute.
"Der Konsens in unserer Gesellschaft lautet: ,Wir hassen die Roma' ", meint Frantisek Kostlan von Romea. In einer großen Umfrage im Dezember 2010 erklärten 40 Prozent der Befragten, sie würden begrüßen, wenn die "cikani" ganz aus dem böhmisch-mährischen Kessel verschwänden. Die Roma, ein Überbleibsel aus der Tschechoslowakei, inzwischen in der dritten und vierten Generation in Tschechien beheimatet.
Generation Chancenlos
Es ist die Generation Chancenlos: "Die jungen Roma von heute sind aufgewachsen in Wohnheimghettos und Sonderschulen", sagt Roman Krystof von der staatlichen Agentur für soziale Eingliederung in Roma-Lokalitäten. "Die Wahrscheinlichkeit, dass sie nie jemanden näher kennen gelernt haben, der längerfristig einer geregelten Arbeit nachgeht, ist groß", meint Krystof.
Das Leben der meisten Roma ist ein einziger Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit und Armut. Wer hineingeboren wird, in diese posttraditionalistische Parallelgesellschaft, in der die höchste Autorität den Wucherkönigen, Drogenhändlern und Zuhältern der Ghettos gilt, kommt aus eigener Kraft nicht heraus. Was bleibt, sind Alkohol, Drogen und Spielautomaten. Und die Wut auf die "gadzos" die "Weißen". Doch deren Hass auf die "cikáni" kocht mit der zunehmenden Gewaltbereitschaft junger Roma weiter hoch.
Der Brandherd liegt im "Schluckenauer Zipfel", eine der ärmsten und entlegensten Gegenden Böhmens. Nachdem eine Gruppe von etwa 20 jugendlichen Roma Ende August in Rumburk, unweit von Novy Bor, sechs "Weiße" verprügelt hatte, nahmen die Bewohner der Stadt selber die Prügel in die Hand. Etwa 500 Leute marschierten an einem warmen Freitagabend Ende August auf ein Roma-Wohnheim los. "Die wollten jemanden lynchen", glaubt Frantisek Kostlan, der das Geschehen beobachtete. "Hätte die Polizei nicht eingegriffen, wäre es zu einem Pogrom gekommen, davon bin ich überzeugt", sagt er und schüttelt den Kopf.
"Alle in Busse setzen"
Pogromstimmung herrscht seitdem mindestens zweimal wöchentlich, in Rumburk und im benachbarten Varnsdorf. Angestachelt von immer neuen Nachrichten über Kinderbanden, die unter der Woche vor allem schwächere Menschen beschimpfen und bestehlen: Behinderte, Alte, andere Kinder. Angeführt entweder von den Neonazis der Arbeiterpartei für soziale Gerechtigkeit (DSSS) oder von Lukas Kohout, einem verurteilten Hochstapler mit Politambitionen, dessen Ehefrau ihn wegen eines Rom verlassen hat.
"Wir sind anständige Menschen" steht auf den Transparenten, die die Demonstranten neben ihren Tschechienfahnen hochhalten. "Man sollte die Zigeuner alle in Busse setzen und irgendwo ganz weit wegbringen", sagt ein junger Mann. Andere Demonstranten scheinen eine endgültigere Lösung zu bevorzugen. "Cikani do plynu" rufen sie - "Zigeuner ins Gas". Von den 8.000 ursprünglichen tschechischen Roma und Sinti, die noch 1939 in Böhmen und Mähren lebten, haben nur 600 den Roma-Holocaust überlebt.
Angesichts der wöchentlich aufflammenden Unruhen im "Schluckenauer Zipfel" greift der Staat zur Peitsche. Bis zu 50 extra abgestellte Bereitschaftspolizisten, sollen auf unbestimmte Zeit für Ruhe zwischen "weißen Rassisten" und "schwarzen Rassisten", wie sich beide Bevölkerungsgruppen gegenseitig beschimpfen, sorgen. Ministerpräsident Petr Neas macht indes das "viel zu großzügige Sozialsystem" für die soziale Situation der Roma verantwortlich.
Er hat angekündigt, Sozialleistungen in Zukunft von gemeinnützigen Arbeiten abhängig zu machen und in Gutscheinen auszuzahlen. Denn, so die Logik, wenn die Roma ihre Stütze in Zukunft nicht mehr versaufen, verrauchen oder verzocken, brauchen sie weniger klauen. Fürs Zuckerbrot ist Monika Simnkova zuständig, die Menschenrechtsbeauftrage der Regierung. "Wir müssen ein Konzept der Integration der Roma ausarbeiten", sagt sie.
Am Geld soll es nicht scheitern: Tschechien erhält aus EU-Fonds noch bis 2013 insgesamt 200 Millionen Euro zur Restrukturierung von Roma-Ghettos. Die Gelder sind laut dem tschechische Nachrichtenmagazin Tyden allerdings in "weiße" Wohnviertel geflossen: Parkplätze wurden gebaut, Fußgängerzonen verschönert, während Spielzentren für Kinder in Roma-Wohnheimen aus finanziellen Gründen schlossen. "Es bleibt offen, wie sich unsere Konzepte und Bemühungen innerhalb der Gesellschaft manifestieren werden", sagt Simnkova. Den Ansatz der Gesellschaft zur Roma-Integration brachte am Samstag der zweite Bürgermeister von Varnsdorf auf den Punkt: "Leute, betet, dass sie sich nicht mehr so vermehren."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Experten kritisieren Christian Lindner
„Dieser Vorschlag ist ein ungedeckter Scheck“
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Spaniens Staatschef im Nahkampf
Ein König mit Cojones
Regierungskrise der Ampel
Schmeißt Lindner hin oder Scholz ihn raus?
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala