Leben mit Pädophilie: Die Angst vor sich selbst

Wie lebt man mit dem Wunsch, Sex mit Kindern zu haben? Was tut man, wenn man sich zwar von Kindern fernhält und dann Onkel wird? Ein Betroffener erzählt.

Nur der Umgang kann verbessert werden, die Neigung bleibt ein Leben lang. Bild: krockenmitte / photocase.com

Ein Lachen geht über das Gesicht der kleinen Maike*, als sie Tobias M.* das Märchenbuch gibt. „Da, lies mir doch mal vor“, sagt sie. Tobias, ein guter Bekannter ihrer Eltern, seufzt. „Na gut“, sagt er und nimmt die 8-Jährige auf den Schoß. Maike kuschelt sich an ihn, lehnt ihren Kopf an. Auch Tobias macht es Spaß. Doch schon während des Vorlesens merkt er, dass etwas nicht stimmt. Sein Herz rast. Er wünscht sich, dass die Situation nie endet.

Tobias M. ist pädophil. Er steht auf Mädchen, „noch nicht in der Pubertät, sportlich, nicht zu schlank, nicht zu mollig, dunkle Haare, braune Augen“. Tobias ist ein Mann mittleren Alters, hat blonde Haare. „Hallo, freut mich“, sagt er, als er vor dem eigens gemieteten Berliner Apartment steht. Er hatte gebeten, für das Gespräch eine Wohnung zu mieten, damit nicht andere Leute zuhören. Tobias trägt ein kariertes Hemd in die Hose gesteckt, die oberen beiden Knöpfe sind offen.

Tobias weiß, dass Pädophile als Abschaum der Gesellschaft gelten. Trotzdem spricht er relativ offen über sein Leben. Denn Tobias ist ein Betreiber der Internetseite www.schicksal-und-herausforderung.de, die eine Anlaufstelle sein soll für Pädophile, die nichts so wenig wollen, wie sich an Kindern zu vergehen. „Das ist mir ein wichtiges Anliegen, dafür betreibe ich Öffentlichkeitsarbeit“, sagt er. Trotzdem möchte Tobias auch Journalisten seinen wahren Namen nicht sagen. Am Telefon meldet er sich mit „Hallo, ich bin's“, seine Mail-Adresse ist anonymisiert.

Die Ursachen: Von der Weltgesundheitsorganisation WHO wird Pädophilie als "Störung der Sexualpräferenz" mit Ausrichtung auf vorpubertäre Kinder definiert. Es ist keine Erbkrankheit. Die Störung wird durch biologische, psychologische und soziologische Faktoren ausgelöst. Welche biografischen Erlebnisse in Kombination mit welchen genetischen Störungen für das Auftreten verantwortlich sind, ist bislang nicht erforscht.

Die Betroffenen: Unter der nicht heilbaren Veranlagung leidet etwa ein Prozent aller Männer, während sie bei Frauen nur sehr vereinzelt diagnostiziert wird.

Die Hilfe: 2004 wurde das "Präventionsprojekt Dunkelfeld" erstmals von der Berliner Charité angeboten und ist heute auch in Kiel und Regensburg belegbar. Bisher nahmen rund 300 Männer und 1 Frau an der Therapie teil. Sie sollen lernen, das eigene Verhalten so zu kontrollieren, dass es zu keinem Übergriff auf Kinder kommt. Neben dem Einüben alternativer Verhaltensstrategien und Training der Konfliktfähigkeit zum Aggressionsabbau werden auch Medikamente angeboten. Die Therapie finanziert der Bund.

Selbstbetrug

Tobias hat eine glückliche Kindheit in Brandenburg, erzählt er. Er wächst geborgen bei seinen Eltern und Geschwistern auf. In der Schule hat er Freunde. „Insgesamt führe ich aber schon damals ein sehr zurückgezogenes Leben.“ Mit Mädchen läuft nichts. Auch als Tobias in die Pubertät kommt, geht er kaum auf Partys, hat keine Freundin. „Ich dachte nicht darüber nach, habe mir gesagt, du bist halt ein Spätzünder.“ Dass er vorpubertäre Mädchen extrem süß findet, merkt er. „Aber das finden doch alle Männer, dachte ich.“

Die Schulzeit geht vorbei, Tobias macht eine Ausbildung, fängt an zu arbeiten.

Es ist ein Abend im Sommer. Tobias surft ziellos im Internet. Irgendwann sieht er auf einer Pornoseite einen Link zu einer Kinderpornoseite. Mädchen zwischen fünf und zehn in Unterwäsche. Er fühlt sich angezogen, klickt weiter. „Ich habe mich wie in einem Rausch gefühlt.“

Schließlich landet Tobias, Wochen später, bei Bildern mit Kindern, die gerade missbraucht werden. Er fühlt sich erregt, klickt die Bilder aber wieder weg. Er weiß, dass sie nicht in Ordnung sind. Fünf Minuten später ist er trotzdem wieder auf der Seite. Kurz danach rennt er zum Klo, muss kotzen. „Es war krass.“

Tobias ringt mit sich. Nach wie vor lehnt sein Gewissen die Bilder ab, doch ihm ist ein sexuelles Verlangen bewusst geworden. „Jetzt hast du's schon einmal gesehen, jetzt ist es auch egal“, rechtfertigt er sich vor sich selbst. „Klar hätte ich jetzt wissen müssen, dass ich pädophil bin, aber ich habe es nicht an mich herangelassen.“ Den Kindern macht es ja Spaß, redet er sich ein, auf dem einen Foto lachen sie doch, auf dem anderen tanzen sie.

Zwischendurch hat Tobias eine kurze Beziehung mit einer erwachsenen Frau, die er bald beendet. Er kann sie nicht lieben, nicht mit ihr schlafen.

Tobias hört kurz zu sprechen auf. Draußen hat es zu regnen angefangen. Er erzählt seine Erlebnisse nicht chronologisch und in allen Details. Er verliert manchmal den Faden, muss durch mehrmalige Nachfragen zum Erzählen gebracht werden. Oft sagt er „man“ statt „ich“ und: „Das kann ich nicht sagen.“ Er spricht ruhig, sieht meistens auf seine Hände.

Eines Tages fährt ein Polizeiauto an Tobias vorbei. Tobias zuckt im ersten Moment, macht Anstalten, den Wagen anzuhalten, sich wegen der Kinderpornos anzuzeigen. Er lässt es doch.

Die Anzeige kommt trotzdem. Eines frühen Morgens trommelt die Polizei an seine Tür, zeigt ihm einen Durchsuchungsbefehl. Die Beamten beschlagnahmen den PC und CDs. Tobias wird verurteilt. Zehntausend Euro wird ihn das alles kosten.

Lebenslänglich

Nun fasst er einen Entschluss. Er ruft von einer Telefonzelle aus seine Krankenkasse an – aus Angst, durch seine Nummer erkannt zu werden. „Für jemanden wie Sie gibt es keine Hilfe“, wird ihm gesagt. Doch das stimmt nicht. Tobias wendet sich an das „Präventionsprojekt Dunkelfeld (kein-taeter-werden.de)“ der Berliner Charité-Klinik.

Er wird zu einem Gespräch eingeladen, füllt Fragebögen aus. Dann weiß es Tobias, inzwischen über 30, endgültig. Er ist pädophil. Pädophil.

Tobias wird depressiv. „Ich wollte mich umbringen, ich sah keine Berechtigung mehr für mein Leben.“ Er bekommt Angst vor sich selbst. Wird auch er einer der Täter werden, von denen er in der Zeitung liest? Eigentlich schließt Tobias aus, dass er auf ein Kind losgeht. Doch wird er sich immer unter Kontrolle haben? Tobias spricht mit seinem Spiegelbild, möchte hineinschlagen. Pädophil!

Tobias outet sich in seiner Familie. „Sie hatten zuerst natürlich ein Fragezeichen im Gesicht“, sagt er. Zwar reagieren seine Eltern verständnisvoll, lassen sich beim Therapieprojekt Dunkelfeld beraten. Doch das Verhältnis kühlt für einige Zeit ab. Auch ihnen fällt der Umgang mit der Pädophilie schwer, das Beschwindeln der Angehörigen.

Die erste Therapiestunde beginnt. Tobias sitzt in einem Stuhlkreis in einem kahlen weißen Raum. Um ihn herum sitzen neun andere Männer, zwei Therapeuten. Die Stimmung ist angespannt. Einer der Therapeuten sagt, dass nur der Umgang mit der Pädophilie verbessert werden kann, die Neigung werde ein Leben lang bleiben. Tobias ist geschockt. Er glaubt, der Boden unter den Füßen würde ihm weggezogen.

Kurze Zeit später erfährt Tobias, dass er Onkel wird. Es ist ein Mädchen. Nun hat er ein Ziel, er möchte ein guter Onkel sein. Tobias hält die Therapie durch, auch wenn er schwere Phasen durchmacht. Es ist eine harte Zeit, sagt er. „Man kommt an seine Grenzen, muss in Abgründe blicken, wozu andere nicht den Mut hätten.“ Er geht ein Jahr lang einmal die Woche zu den Sitzungen.

Tobias weiht einen Kollegen in seiner Firma ein, seine Hausärztin. Er nimmt hormonsenkende Medikamente, redet in Gruppensitzungen über sein Leben, lernt, sich in potenzielle Opfer hineinzuversetzen. Auch macht er bei Gedankenspielen mit: Er muss sich vorstellen, er liege auf einer Wiese. Ein Kind kommt und breitet seine Decke aus. Was fühlt er? Dann dieselbe Szene noch mal. Jetzt ist er das Kind und ein Mann beobachtet ihn.

Tobias muss die Übung mit starken Angstgefühlen abbrechen.

Onkel sein

Seine Nichte kommt auf die Welt. Tobias schafft es, sich um sie zu kümmern und trotzdem angemessenen Abstand zu halten, sagt er. Bestimmte Situationen meidet er, etwa, sie zu wickeln.

Die Sonne scheint wieder. Mittlerweile ist es früher Abend. Tobias atmet tief durch. „Tja, so vergingen die Monate. Dann war das Jahr vorbei.“

Er hat nun gelernt, seine Neigung zu kontrollieren, sagt er. Er definiert sich nicht mehr über seine Pädophilie, sondern darüber, wie er mit ihr umgeht. Schwimmbäder, Parks, Spielplätze meidet er weitgehend. Woher seine pädophile Neigung kommt, weiß Tobias nicht. Es interessiert ihn auch nicht. Wichtig ist ihm, dass er einen relativ normalen Alltag leben kann, auch wenn er außer seinen Eltern und Geschwistern kaum jemanden hat.

Natürlich hat Tobias Sehnsucht nach körperlicher Nähe, Zärtlichkeit, Liebe. Er hasst es, jeden Morgen alleine aufzuwachen. Aber eine Beziehung mit einer erwachsenen Frau, eigene Kinder? Undenkbar. „Wie soll das funktionieren? Soll ich eine Kontaktanzeige aufgeben: Junge Frau mit noch recht kindlichem Körperbau gesucht?“

*Namen geändert

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