Gefahren bei Schönheitschirurgie: Unter die Haut
Nur einmal wollte sich Claudia Herder ihre Falten wegspritzen lassen. Sie bekommt davon Tumoren. Die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen ist fast unmöglich.
Das Tückische an solchen Tumoren mitten im Gesicht sind ja nicht nur die Schmerzen. Es ist ihre Unberechenbarkeit. Jetzt in Berlin, an einem nasskalten Wintertag, wachsen, drücken, demütigen sie besonders.
Claudia Herder zieht mit dem Zeigefinger die gerötete, knotige Linie nach vom rechten Nasenflügel zum Mundwinkel, weiter über die Oberlippe und von dort hinauf zum linken Nasenflügel. „Alles verhärtet“, sagt sie, und die Gewissheit, die ihr die Ärzte gegeben haben, dass nämlich ihre Tumoren, die die Mediziner als unerwünschte Begleiterscheinung einer kosmetischen Faltenunterspritzung verbuchen, dass diese Tumoren also immerhin gutartig sind, diese Gewissheit fühlt sich in diesem Moment an wie ein schwacher Trost.
Claudia Herder kommt gerade von einer Demonstration gegen Agrarfabriken in der Landwirtschaft, sie ist deswegen extra aus Bayern nach Berlin gereist, das Make-up dezent, die Haare vom Wind frisiert, die Kleidung zweckmäßig. Vor ein paar Tagen hat sie ihren 50. Geburtstag gefeiert. „Nachhaltigkeit und Natürlichkeit, Vernunft“, sie sagt das sehr ruhig, „das waren immer die Themen meines Lebens“.
Und der Weg, den sie dazu jahrzehntelang konsequent beschritt, beruflich wie privat, dieser Weg ließ nicht vermuten, dass Claudia Herder eines Tages ausbrechen wollen könnte aus ihrem engen, selbst gewählten Wertekanon: Lehre zur ländlichen Hauswirtschafterin. Studium der Landschaftsarchitektur. Selbständigkeit im eigenen Ingenieursbüro in Bayern. Ehrenamtliches Engagement in diversen Bürgerinitiativen rund um die Schöpfung und das Bewahren derselben.
Und dann „die Verrücktheit“, wie sie sagt, der Wunsch, ein einziges Mal etwas anderes zu tun als das von ihr Erwartete. Den Freunden, der Familie, sich selbst zu beweisen, dass sie auch ganz anders kann. Claudia Herder – um dieses Pseudonym hat sie gebeten, weil sie Schubladen, in die Frauen schnell geraten, wenn sie sich zu Eingriffen entschließen, zu denen sie sich entschlossen hat, nicht mit ihrem richtigen Namen in Verbindung gebracht wissen möchte.
Das Kleingedruckte
Ein kleiner schönheitschirurgischer Eingriff. Was heißt chirurgisch, es waren doch nur dünne Nadeln, Faltenunterspritzung mit dem Füllmaterial Dermalive der französischen Firma Dermatech. Elf Jahre ist die erste Injektion her, zehn Jahre die zweite, und irgendwo im Kleingedruckten der Patientinnenaufklärung, die Claudia Herder damals in einer großen Schönheitsklinik unterschrieb, stand wohl auch, dass „entzündliche Fremdkörpergranulomebildung“ in sehr seltenen Fällen als unerwünschte Nebenwirkung auftreten könnten.
In sehr seltenen Fällen. Sie hat darüber hinweggelesen, natürlich, sie wusste ja nicht mal wirklich, was Granulome sein sollten, sie hatte andere Sorgen. Es ging um einen Mann damals und ein mögliches gemeinsames Kind, um existenzielle Fragen also, Fragen mit dem Potenzial, den eigenen Kompass ins Wanken zu bringen, wenn eine bald 40 wird und sie nicht abschließend für sich beantwortet hat. Hyaluronsäure und Methacrylate, die Dermalive-Materialien, die ihre Falten glätten und ihre Oberlippe ein wenig aufpolstern sollten, waren auch so etwas wie der Versuch, sich in dieser Gemengelage selbst etwas Gutes zu tun.
Mit den Folgen – Entzündungen, Verhärtungen, Knoten unter der Haut, die einige Monate nach der Behandlung aufgetreten und geblieben sind, weil ihr Körper sich wehrt gegen das Fremde und es immer wieder einzukapseln und abzustoßen versucht – kämpft sie bis heute. Allein. Sie weiß: „Wenn ich ganz großes Pech habe, dann platzen die eitrigen Entzündungen rund um die Riesenzellen eines Tages, dann droht eine lebensgefährliche Streuung in den Blut-Gehirn-Kreislauf.“
Die Geschichte Claudia Herders, die sich hinzieht seit bald zehn Jahren und handelt von Scham, Wut und mehreren tausend Euro Anwaltskosten, ist kein tragischer Einzelfall. Sie vermittelt eine Ahnung dessen, was Zehntausenden Frauen weltweit bevorstehen könnte, die jetzt überlegen, wegen fehlerhafter Brustimplantate der Firma PIP vor Gericht zu ziehen, Schadensersatz einzufordern, insolvente Hersteller, Ärzte, Kliniken oder Behörden zu verklagen. Es ist, dies vorweg, keine gute Ahnung.
Vorhaltungen von Freunden
„Es hat lange gedauert, bis ich mich überhaupt getraut habe, mich zu wehren“, sagt Claudia Herder. Was machst du auch für Sachen, halten ihr anfangs selbst Freunde vor. Als Claudia Herder begreift, dass die Schuld nicht bei ihr liegt, da scheint es zu spät, die Verantwortlichen heranzuziehen: Dermatech, der Hersteller des Medizinprodukts, das Ärzte 2001 und 2002 unter Claudia Herders Haut spritzten, meldet im Juni 2007 Konkurs an. Der Insolvenzverwalter in Frankreich lässt Anfragen zur Produkthaftung seither unbeantwortet.
Die behandelnden Ärzte und die Klinik berufen sich auf ihre geleistete Aufklärung und darauf, dass Claudia Herder das Risiko möglicher Nebenwirkungen billigend und wissentlich in Kauf nahm. Eine andere Klinik hat angeboten, das unterspritzte Material in einer nicht risikolosen Operation wieder entfernen und ihr anschließend vermutlich lädiertes Gesicht sodann mit Eigenfett aufpolstern lassen. Kosten: 5.000 bis 10.000 Euro, zu zahlen aus eigener Tasche.
Die Krankenkasse findet es kulant, dass sie die Antibiotika und die Arztkosten erstattet, neulich sogar in der Notaufnahme, als die Entzündungen besonders arg waren. Mehr allerdings, argumentiert sie, geht nicht: Wer sich in Deutschland einer medizinisch nicht notwendigen ästhetischen Behandlung unterzieht, der muss auch für etwaige gesundheitliche Komplikationen selbst aufkommen. So will es das Gesetz.
Was das Gesetz nicht will: dass Medizinprodukte auf den Markt kommen und dort verbleiben, die Patientinnen nachweislich schädigen. Etwa jede fünfte mit Dermalive behandelte Frau, schätzt Claudia Herder, die mittlerweile in Selbsthilfegruppen aktiv ist, leide unter kleinerer oder größerer Knotenbildung.
„Risiken sind ausgeschlossen“
Für diese Überwachung zuständig ist das Bundesgesundheitsministerium, genauer gesagt die ihm unterstellte Aufsichtsbehörde, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, kurz BfArM. Dieses teilt lapidar mit: „Bezüglich der Marktüberwachung aktuell bzw. zukünftig ergeben sich keine Maßnahmen, da der deutsche Vertreiber […] mitgeteilt hat, dass der französische Hersteller die Dermalive-Produktion aufgrund von Firmenschließung seit Mitte des Jahres 2007 eingestellt habe. Daraus folgt, dass Risiken für künftige Anwendungen auszuschließen sind. Die Risikobewertung des BfArM ist daher abgeschlossen.“
In ihre Sicht der Dinge weihen das Ministerium und das BfArM Claudia Herder nicht freiwillig ein. Das Zitat entstammt einer Stellungnahme, die das BfArM vor zweieinhalb Jahren im Auftrag des Ministeriums verfasste, nachdem sich die Europäische Kommission, Generaldirektion Unternehmen und Industrie, Referat Kosmetika und Medizinprodukte, 2009 in den Fall eingeschaltet hatte. Dies freilich nicht aus Sorge um die Gesundheit der EU-Bürgerin Claudia Herder. Sondern weil diese die Ausflüchte der Behörden nicht mehr ertrug und erfolgreich nach dem Informationsfreiheitsgesetz Akteneinsicht in deren Schriftverkehr beantragte.
Wer diese Schreiben liest, dem erschließt sich das verheerende Ausmaß einer EU-weit bis heute geltenden Gesetzeslage, die die Verantwortung für die Produktsicherheit, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von Medizinprodukten ihren Herstellern überträgt sowie den von ihnen bezahlten und beauftragten privaten Prüfinstituten. Staatliche Kontrolle oder Überprüfung? Gibt es nicht.
Freimütig räumt das BfArM im Juni 2009 ein, „keine Analyse und Bewertung der vom Hersteller vor Inverkehrbringen erfolgten klinischen Bewertung durchgeführt“ zu haben. Begründung: „Dies war nach Bewertung der eingeholten Stellungnahme des französischen Herstellers nicht erforderlich.“
Mehr Schutz?
Das Bundesgesundheitsministerium immerhin regt im Oktober 2009 gegenüber der Europäischen Kommission an, es solle „darüber nachgedacht werden, ob für Produkte, die […] hauptsächlich an gesunden Menschen für vorwiegend kosmetische Zwecke eingesetzt werden, zusätzliche Anforderungen zu stellen sind“. Als sie das gelesen habe, sagt Claudia Herder, da habe sie Hoffnung geschöpft. Dass sich vielleicht wenigstens in der Zukunft etwas ändert. Dass Frauen wie sie dann möglicherweise Entschädigung, wenn schon nicht vom Hersteller, dann zumindest aus einem staatlichen Fonds erhalten könnten, wenn dieser Staat anerkennt, dass er seine Konsumentinnen nicht ausreichend geschützt hat vor Produkten von Scharlatanen.
Ein Happy End also? Ach was. Das Schreiben des Ministeriums geht weiter: „Eine konsequente Anwendung der Risiko-Nutzen-Bewertung würde darauf hinauslaufen, dass diese Produkte (da mit Risiken verbunden) nicht verkehrsfähig wären […]. Allerdings würde dies, realistisch betrachtet, quasi zu einem Verbot aller invasiven kosmetischen Produkte führen, was vermutlich in Europa nicht konsensfähig wäre.“
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