Jahrestag in Syrien: Wo der Aufstand begann und lebt
Daraa im Süden des Landes gilt als die Wiege der Revolution. Nur hier haben gemäßigte Rebellen heute noch entscheidenden Einfluss.
BERLIN taz | Ein Blick in den Süden Syriens lohnt sich. Es war in der 80.000-Einwohner-Stadt Daraa, wo im März 2011 die ersten großen Proteste stattfanden, die ersten Demonstranten starben, die ersten Panzer rollten, die ersten Soldaten desertierten. Und es ist die Provinz Daraa, in der die gemäßigten Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) bis heute bedeutend sind. Im Gegensatz zum restlichen Syrien, das von Pro-Regime-Milizen, Islamisten, Dschihadisten oder Kurden dominiert wird.
Dabei ist in Daraa vieles wie anderswo. 2011 leiden die Menschen unter einer jahrelangen Dürre und einer ausufernden Bürokratie. Geheimdienste gängeln Bauern und Geschäftsleute, indem sie Saatgut und Genehmigungen nur gegen Schmiergelder verteilen. Verantwortlich für Korruption und Willkür ist Geheimdienstchef Atef Najib, Assads Cousin und Statthalter im Süden. Arrogant und skrupellos geht er im März 2011 den entscheidenden Schritt zu weit.
Angeregt durch die Umbrüche in Tunesien und Ägypten, malen Schulkinder regimekritische Parolen an die Mauern ihrer Schule, werden verhaftet und gefoltert. Die Familien gehen zu Najib, um die Freilassung ihrer Kinder zu fordern – vergeblich. „Vergesst diese Kinder, geht nach Hause und macht neue, und wenn ihr Hilfe braucht, schickt uns eure Frauen“, soll der gesagt haben. Am 18. März tragen Hunderte Bewohner von Daraa ihre angestaute Wut auf die Straße.
Städte und Dörfer solidarisieren sich mit den Protesten in Daraa
Das Regime reagiert mit Gewalt. Vier Demonstranten werden erschossen, ihr Beerdigungszug wird zum nächsten Protestmarsch, in den folgenden Wochen solidarisieren sich Städte und Dörfer in ganz Syrien mit dem Widerstand. Für Assad sind die Demonstranten von Anfang an Terroristen und ausländische Agenten. Um diese Propaganda wahr werden zu lassen, entlässt er Dschihadisten aus dem Gefängnis, schürt konfessionellen Hass und schickt Provokateure des Geheimdienstes.
Bis zum Sommer 2011 weitet sich die Revolution zu einer landesweiten, aber dezentralen Bewegung aus, Millionen Syrer demonstrieren an Dutzenden von Orten. Assad fühlt sich bedroht, er lässt die Proteste niederschlagen – mit Scharfschützen, Panzern, Raketen, Kampfjets, Chemiewaffen und Fassbomben. Die Revolution militarisiert und radikalisiert sich. Ausländische Akteure mischen sich ein – erst Iran, die libanesische Hisbollah und Russland auf Regimeseite, dann Katar, Saudi-Arabien und die Türkei auf Oppositionsseite. Weil der Westen viel redet, aber wenig hilft, geraten die gemäßigten Rebellen und der zivile Widerstand ins Hintertreffen. Angelockt vom Staatszerfall, kommen ab 2013 Al-Qaida-Gruppen ins Land, heute sind IS und die Nusra-Front die mächtigsten unter den Assad-Gegnern.
Die FSA hat in der Provinz die Unterstützung der Bevölkerung
Nur im Süden haben gemäßigte Rebellen noch entscheidenden Einfluss. Zwar ist die Nusra-Front auch in Daraa präsent, aber anders als im Norden arbeiten die FSA-Brigaden dort effektiver zusammen. Das hat mit ihrer Organisation und ihrer ausländischen Unterstützung zu tun. Ein US-geführtes Military Operations Center (MOC) in Jordanien kanalisiert militärische Hilfe zu den verbündeten Gruppen in Syrien, die sich zunächst im Daraa-Militärrat, später in der Ersten Armee zusammenschließen und aus Kämpfern der Region bestehen.
Auch hier ist die Unterstützung halbherzig, so dass die FSA bei großen Operationen mit der Nusra-Front zusammenarbeiten muss. Eine Zerschlagung oder Übernahme ganzer Einheiten durch die Nusra-Front wie in Idlib oder Aleppo hat es in Daraa jedoch noch nicht gegeben. Zwar ist Nusra den moderaten Rebellen militärisch überlegen, aber bislang hat die FSA im Süden zwei entscheidende Vorteile – sie hat mehr Kämpfer und den Rückhalt der Bevölkerung.
Zivilgesellschaftliche Gruppen sind weiterhin aktiv
Daneben kümmern sich zivilgesellschaftliche Organisationen effektiv um Verwaltung und Versorgung in den „befreiten“ Gebieten, sagt Khaled Yacoub Oweis, ehemaliger Reuters-Korrespondent in Syrien und Stipendiat bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Oweis hat die Lage im Süden untersucht und festgestellt, dass die Infrastruktur im Gegensatz zum Norden des Landes weitgehend verschont geblieben ist, weil beide Seiten sich gegenseitig brauchen. So liefere Daraa Wasser in die vom Regime kontrollierte Nachbarprovinz Suweida, während umgekehrt Suweida Daraa mit Strom versorge.
Insgesamt ist das Kräfteverhältnis zwischen Regime und Opposition im Süden ausgewogener, was auch die Chancen für lokale Waffenstillstände erhöht, meint der Journalist. Denn während die Feuerpausen anderswo meist einer Kapitulation der Rebellen gleichkamen, haben in Daraa beide Seiten ähnlich starke Verhandlungspositionen, was zu dauerhaften Kompromissen führen könnte.
Assad will Gemäßigte in die Arme von der Nusra-Front und des IS treiben
Doch Assad hat andere Pläne. Mit einer Offensive im Süden versucht er derzeit, den Widerstand zu schwächen und gemäßigte Rebellen in die Hände von Nusra und IS zu treiben. Dann kann er seinen Krieg gegen Zivilisten auch dort als Anti-Terror-Kampf deklarieren. Daneben ist die Region wichtig als Verbindungsachse zwischen Damaskus und Jordanien und wegen ihrer Nähe zu den rebellenkontrollierten Vororten der Hauptstadt und zu den von Israel besetzten Golanhöhen, auf denen die Nusra-Front bereits Stellungen hält.
Statt sich in Syrien nur auf den IS zu konzentrieren, wie es der Westen seit Sommer 2014 tut, sollte er den Ursprung der Radikalisierung, den brutalen Machterhalt Assads, nicht vernachlässigen. Das gilt auch für den Süden, wo die gewünschten Partner dem MOC bekannt und in der Lage sind, den Dschihadisten entgegenzutreten. Dafür müssen sie aber vor allem eines: den Kampf gegen Assad anführen. Nur so wird die FSA den Radikalen das Wasser abgraben. Nur wenn sie auf die militärische Unterstützung der Nusra-Front verzichten kann, wird diese an Bedeutung und Attraktivität verlieren.
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