Auswilderung: Der Berg der Luchse
Zwanzig Jahre deutsche Einheit: Eine Spurensuche im Norden der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Heute: Der Nationalpark Harz, in dem das ambitionierteste Auswilderungsprojekt Deutschlands läuft.
Luchse mögen keine Grenzen. So wie der Kater, der in 36 Stunden durch den Harz wanderte. 90 Kilometer legte das mit einem GPS-Halsband ausgestattete Männchen "M1" im April vorigen Jahres in einem Rutsch zurück, sehr zur Verwunderung von Ole Anders. "So eine lange Strecke in so kurzer Zeit hat uns überrascht", sagt der Koordinator des Luchsprojektes im Nationalpark Harz. Seit zehn Jahren leitet der Diplom-Forstingenieur das ambitionierteste Auswilderungsprogramm Deutschlands: die Wiederansiedlung der größten europäischen Raubkatze im Zentrum des Kontinents.
Vier halb zahme Tiere leben im Schaugehege an der Rabenklippe im Bergwald bei Bad Harzburg. Sie sind an Menschen gewöhnt, damit die sich an sie gewöhnen können. "Menschen schützen nur, was sie kennen", weiß Anders. Das Auswilderungsgehege ist tiefer im Wald versteckt, an einem geheimen Ort abseits von Spazierwegen. "Da soll ja auch niemand hinkommen", sagt der 39-Jährige.
Ohne die deutsche Wiedervereinigung würde es dieses 1999 gestartete Projekt nicht geben, die Fläche wäre zu klein. Jetzt aber gibt es im nördlichsten deutschen Mittelgebirge den einzigen Nationalpark, der die Grenzen von Bundesländern und den ehemaligen Eisernen Vorhang überwindet. Niedersachsen und Sachsen-Anhalt haben ihre Schutzgebiete zu einem gemeinsamen Nationalpark zusammengelegt. Ein Zehntel des 2.500 Quadratkilometer großen und jahrzehntelang geteilten Gebirges umfasst er, und selbst das ist rein rechnerisch gerade mal genug für einen Luchskater.
Der Nationalpark Harz umfasst mit rund 250 Quadratkilometern etwa ein Zehntel des nördlichsten deutschen Mittelgebirges.
An der innerdeutschen Grenze gab es zunächst zwei Nationalparks: Der zu Sachsen-Anhalt gehörende "Nationalpark Hochharz" war noch auf Beschluss der DDR-Volkskammer zum 1. 1. 1990 gegründet worden. 1994 folgte in Niedersachsen der "Nationalpark Harz". 2006 wurden sie zum ersten länderübergreifenden Nationalpark zusammengelegt.
Der höchste Berg Norddeutschlands, der 1.142 Meter hohe Brocken, liegt im Zentrum des Nationalparks. In den Hochlagen herrschen besonders raue Klimabedingungen, die so in keinem anderen deutschen Mittelgebirge zu finden sind. Die Landschaft ist geprägt durch steile Bergzüge und Hochebenen mit ausgedehnten Fichten- und Buchenwäldern sowie ökologisch besonders wertvollen Hochmooren.
Die Parkverwaltung hat ihren Hauptsitz in Wernigerode (Sachsen-Anhalt) und eine Außenstelle in St. Andreasberg (Niedersachsen). Nationalparkhäuser mit Ausstellungen und Veranstaltungen gibt es in St. Andreasberg, Schierke (Sachsen-Anhalt) und Bad Harzburg (Niedersachsen).
Das Luchsgehege im Bergwald Rabenklippe ist vom Haus der Natur Bad Harzburg zu Fuß, mit der Seilbahn plus Fußmarsch oder dem Erdgasbus zu erreichen.
Weitere Infos: http://www.nationalpark-harz.de/.
"Die Fläche Hamburgs würde für drei, höchstens vier Kater reichen", sagt Anders. Bis zu 250 Quadratkilometer beansprucht ein ausgewachsenes Männchen, mithin dürfte es zehn, vielleicht zwölf Reviere im Harz geben, die sich mit den kleineren mehrerer Weibchen überschneiden. Auf eine genaue Zahl will Anders sich aber partout nicht festlegen, er ist halt Wissenschaftler.
Laut Statistik wurden 25 Tiere seit dem Jahr 2000 ausgewildert, 58 wild geborene Jungtiere sind nachweisbar, 13 Luchse wurden tot aufgefunden. Zu Beginn war es die Fuchsräude, an der einige Katzen eingingen, andere kamen bei Unfällen mit Autos und Zügen ums Leben. 50 bis 80 Luchse werden es jetzt wohl sein, und das reicht, die Auswilderung von Jungtieren wurde jetzt gestoppt. "Wir haben eine Quellpopulation geschaffen", bilanziert Anders zufrieden. Lynx lynx, 1818 im Harz ausgerottet, sei 190 Jahre später "wieder zu einer ganz normalen heimischen Tierart geworden". Jetzt müsse die Katze aber "selbst raus aus der Käseglocke".
Und das tut sie denn auch. In der Lüneburger Heide, im Solling und Reinhardtswald wurden vereinzelt wandernde Luchse nachgewiesen, und vor allem in südöstlicher Richtung. Durch den Thüringer Wald ins Fichtelgebirge, nach Osten durch die deutsch-tschechischen Grenzgebirge bis in die polnische Hohe Tatra und nach Süden durch den Bayrischen Wald in die Alpen - dann wäre die Raubkatze mit den Pinselohren und dem Stummelschwanz wieder heimisch in Mitteleuropa.
Für Andreas Pusch ist der Luchs "schon das Schmuckstück". Wichtiger aber noch ist dem Chef des Nationalparks "die Signalwirkung", dass Menschen und große Raubtiere gemeinsam leben können. Nach anfänglichen Widerständen vor allem bei Bauern und Jägern sei der Luchs inzwischen "breit akzeptiert", freut sich Pusch: "Der ist zum Sympathieträger geworden."
Auch die Bestände von Reh- und Rotwild, Lieblingsbeute der Luchse, sind im grenzenlosen Harz kräftig angewachsen. Auf etwa 15.000 Stück wird die Population geschätzt. "Das ist fast schon zu viel Wild für den Harz", sagt Pusch. Ein Reh pro Woche deckt den Appetit eines Luchses, vielleicht 2.500 also pro Jahr werden sie verspeisen, da bleibe für die Jäger "noch genug übrig". Und wenn ab und zu ein Schaf oder eine Ziege gerissen wird, bekommen die Bauern eine Entschädigung. 840,70 Euro zahlte der Nationalpark 2008 für fünf Weidetiere, die Luchsen zum Opfer fielen, das liegt im Schnitt der anderen Jahre.
Auch gab es die von manchen befürchteten Zwischenfälle mit Wanderern nicht. Lediglich ein paar nicht angeleinte Hunde bekamen Kratzer ab. Sie kamen vermutlich einer Beute oder Jungtieren zu nahe, "und da verstehen auch Luchse keinen Spaß", grinst Anders: "Dann gibts was auf die Backen, und die Sache ist geklärt." Ansonsten aber sei es eine Seltenheit, einen der scheuen Einzelgänger zu Gesicht zu bekommen. "Wenn Sie so viel Glück haben sollten", empfiehlt Anders, "freuen Sie sich einfach".
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