Under-Cover-Bericht zum Kölner Archiv (Tag 3): Schimmelalarm!
Unser Autor berichtet von der „Erstversorgung“ der geretteten Kölner Archivalien. Heute: Im Kampf gegen Staub und Sporen und: Kleckern und Klotzen bei der Digitalisierung. Tag drei.
Horoskop von Mittwoch, 8. April, Kölner Stadt-Anzeiger: „Es dürfte Ihnen super gelingen, anderen Menschen klarzumachen, wo sie falsch liegen und wie sie es besser machen könnten.“
14 Uhr. Schichtbeginn: Schimmelalarm! Im Kölner Stadt-Anzeiger hat heute die Stadtarchivarin von Siegburg kritisiert, dass mit dem Arbeitsschutz zu lax umgegangen werde: schlecht sitzende Atemmasken, schlechte Durchlüftung. Dabei können die Pilze auf dem Schriftgut Allergien und Krebs auslösen. „Eine Unverschämtheit,“ sagt sie.
Eine freie Berichterstattung aus dem Kölner „Erstversorgungszentrum“ ist nicht möglich. Deshalb führte Dietmar Bartz, Freiwilliger vor Ort, ein Tagebuch. 1979 legte er die Laufbahnprüfung für den gehobenen Archivdienst ab. Nach seinem Berufswechsel war er zehn Jahre lang Redakteur der taz.
Die Kritik von der rechten Rheinseite sitzt. Ab sofort müssen wir die Schutzanzüge vor jeder Mahlzeit ausziehen, Trinkflaschen dürfen nicht mehr in die Halle mitgenommen werden, das Tragen der Mundschutze wird auch in Bereichen ohne Pilzverdacht kontrolliert. „Das ist eine politische Entscheidung. Sieben Werktage lang wird eine Schimmelprüfung veranstaltet, dann sehen wir weiter,“ erklärt der Archivar vom Dienst im roten T-Shirt. Er gibt zu erkennen, dass er das für überflüssig hält.
Vom 9. bis 11. Februar 1946 überschwemmte die Leine zwei Meter hoch das teilzerstörte Hauptstaatsarchiv Hannover. Drei bis vier Kilometer Akten und Urkunden, die gerade unzerstört aus Bergwerken zurückgekommen waren und auf dem Boden lagerten, verschlammten, trockneten zu ziegelsteinähnlichen Gebilden und verpilzten. Fünf Personen werden für die Wiederherstellung der letzten 100 bis 200 Regalmeter noch bis 2013 brauchen. Gegen den Pilz sind fünf Stellen auf zehn Jahre bewilligt.
Vor meiner Abreise hatte mir Freund Christoph, Experte für Arbeitssicherheit, die Vorschriften eingeschärft. Schutzanzüge des Typs 5/6. Atemmasken der Stufe PPF2. Einweg-Handschuhe. Alles für „nicht gezielte Tätigkeiten im Umgang mit biologischen Arbeitsstoffen“ – vulgo: feuchte und verpilzte Papiere. Haben wir hier auch alles erhalten.
Nur ist die Stadt nicht von selbst darauf gekommen, fortlaufend die Staub- und Sporenbelastung zu messen. Hätte sie das getan, könnten wir uns die ganze Aufregung sparen. Wenigstens wird die heutige Aufregung künftig ein paar Dummies vor sich selbst schützen. Öfters haben Leute ganz ohne Mundschutz gearbeitet. Eine trug einen schicken dunkelblauen Stoff-Overall, die langen roten Haare frei darüber. Leider verschwindet jetzt auch die farbige Funktionswäsche der Kölner unter den weißen Schutzanzügen.
Im Bombenangriff vom 15. März 1945 auf Hannover sank ein Motorschiff mit 20.000 Archiveinheiten (500 Regalmetern) evakuiertem Schriftgut aus dem Hauptstaatsarchiv Düsseldorf. Geborgen, aber unsachgemäß getrocknet und verschimmelt, verblockten die Bände zu harten Klötzen, die seither „Kahnakten“ heißen. 1976 begann ihre Restaurierung, anfangs mit sechs, jetzt noch mit drei Stellen. Derzeit sind die letzten 2000 Bände in Behandlung.
14.15 Uhr. Heute wechsle ich auf einen neuen Arbeitsplatz. Im Obergeschoss der Halle stecken wir alle gereinigten und trockenen Archivalien zur Sicherheit in Wärmekammern und verpacken sie anschließend in Archivkartons.
Aber was für ein Durcheinander! Felder mit Wannen voller Archivgut, dazwischen Paletten, fertig zum Abtransport, Transportwagen verstopfen die Durchfahrten. Ich nehme mir mein Horoskop zu Herzen und plane die Wege neu. Anfahrt der Wagen von hinten, Bereitstellungräume vorne, Lagerflächen dazwischen.
14.30 Uhr. 200 Wannen voller Archivalien kommen an. Ich schlage der Restauratorin vom Dienst vor, wie wir sie platzieren können, damit sie heute nicht stören und morgen schnell geleert werden können.
15.15 Uhr. Vier Arbeiter erledigen das. Sowas gefällt mir.
Am 21. Oktober 1961 brannte die Burg Trausnitz mit dem Staatsarchiv für Niederbayern ab; drei Feuerwehrleute starben. 10.000 Archiveinheiten waren betroffen, von denen je ein Drittel total zerstört, unrettbar beschädigt oder restaurierbar war. 1000 Einheiten aller Erhaltungsstufen haben die Archivare schlicht vergessen, 250 Kartons, rund 50 Regalmeter. Erst kürzlich kamen sie in einem Magazin wieder zum Vorschein. Sie werden verfilmt, eine Restaurierung ist zu teuer.
16 Uhr. Kaffeepause, Diskussion über die Digitalisierung. In den Tagen nach dem Einsturz, als manche Chaoten behaupteten, alles sei vernichtet, bildete sich eine kleine Initiative, um ein Digitales Stadtarchiv zu gründen. Sie forderte die Besitzer von Kopien kölnischer Archivalien auf, sie auf einer Website ins Internet einzustellen.
Nur – das ist Geklecker. Mehr als 10 Millionen Aufnahmen aus dem Stadtarchiv existieren auf Mikrofilm, darunter die nahezu gesamte Überlieferung vor 1815. Mehr als 6000 Filme, um deren sichere Aufbewahrung im berühmten Barbarastollen im Schwarzwald in den letzten Wochen viel Aufhebens gemacht wurde. Völlig unnötig, die Filme jetzt dort herauszuholen: Ein kompletter Satz liegt in Köln an einem sicheren Ort. Die verschütteten Exemplare, die wir manchmal entstauben, sind nur Arbeitskopien davon.
Das sind doch Informationen, die auf eine städtische Webseite gehören! Die Kaffeetrinker haben das erst von mir erfahren. Ich muss mit den Ergebnissen meiner journalistischen Recherchen vorsichtig sein und sage ihnen, ich hätte es irgendwo gelesen. Bin für sie ein Verlagsangestellter, der für Kontakte zu Druckereien zuständig ist. Wer von den Helfern dies liest: Sorry für die eine oder andere Notlüge.
Kopien dieser Filme sind schnell gemacht. Ein Mikrofilmlesesaal könnte der erste Teil eines wieder in Betrieb gehenden Stadtarchivs sein. Die Aktivisten vom Digitalen Archiv sollten sich auf die Zeit konzentrieren, die zwar unspektakulär ist, auf die es jetzt aber wirklich ankommt: alles ab 1815.
Die Mikrofilme ebenfalls online zu stellen – das wäre was. Aber dafür braucht man als Datenspeicher ein ganzes Rechenzentrum, eine Software mit passender Benutzeroberfläche, Lupen- und Diashow-Funktion. Nur eine Million Euro würden es kosten, zehn Millionen Bilder zu digitalisieren. Aber Programme und Infrastruktur brauchen viel mehr Zeit und Geld. Und dennoch hat die Idee Charme. Sie braucht ja nicht in Köln umgesetzt zu werden, weil die Archivare hier ja andere Sorgen haben ... „Hörn’Se auf“, bremst mich einer, „die haben schon genug Probleme mit ihrer Autonomie. Denen redet doch jetzt jeder rein.“
Die Arno-Flut vom 4. November 1966 überschwemmte und verschmutzte auch mehr als 20 der 60 Regalkilometer Schriftgut im Staatsarchiv von Florenz, dazu 30 Kirchenarchive und 1,2 Millionen Bücher der Nationalbibliothek. Kurzerhand wurden die Bestände in Zigarrenfabriken und Getreideverarbeitungsanlagen schnellgetrocknet.
18 Uhr. Heute sind wieder die Johanniter für unser Abendessen da. Gleich zwei Behälter Kaffee, kein Tee. Das Scheibenbrot noch abgepackt. Ein Nudelsalat mit so viel Mayonnaise, dass ihn die Hälfte von uns verschmäht. Die andere Hälfte stochert mit Plastiklöffeln darin rum, Kellen gibt’s nicht. Ist es so schwer, schmackhaftes Brot und einen Obst- oder Gemüsesalat zu besorgen, der den Ernährungsgewohnheiten des frühen dritten Jahrtausends entspricht? Alle Freiwilligen bleiben bescheiden und freundlich.
Der Johanniter-Einsatzleiter droht: Wenn weiterhin so viele Getränkeflaschen halb geleert oder gar nicht zurückkommen, werde künftig nur noch die Hälfte geliefert. Eine Unverschämtheit, dies Freiwilligen zu sagen, die vier Stunden im Schutzanzug geschwitzt haben. Die Stadt Köln bezahlt die Johanniter für das, was sie hier präsentieren. Welcher Rechnungshengst addiert wohl morgen, wieviel Pfandflaschen verschwunden sind?
Sagen wir es so: Im Gegensatz zu den katholischen Maltesern halten die evangelischen Johanniter ihr Ideal von Sparsamkeit und Kargheit aktiv aufrecht. Insofern erhebe ich gegen die Trennung der beiden Orden im Jahr 1538 keine nachträglichen Einwände.
Die Birthler-Behörde, die die Akten der Stasi verwaltet, sitzt auf knapp 16.000 Säcken mit Papierschnipseln, von Stasi-Leuten 1989/90 aus sieben bis acht Regalkilometern Akten gemacht. 25 Beschäftigte brauchten neun Jahre, um den Inhalt von 335 Säcken zu rekontruieren. Jetzt sind es 400 Säcke. Mit weiteren 400 soll ein Pilotverfahren die digitale Rekonstruktion per Computer erlauben. Funktioniert es, könnten die restlichen 15.000 Säcke bis 2013 erschlossen sein.
Achtköpfig ist die Gruppe vom Uni-Archiv Aachen. Inmitten seiner Studierenden verdrückt Geschäftsführer Klaus Graf schweigend seine Brote. Er ist das Enfant terrible der deutschen Archivszene, ein Querulant und Eiferer, der sich ständig im Ton vergreift. Aber sein Blog Archivalia ist die einzige brauchbare Quelle für Nachrichten über den Einsturz, in diesen Tagen Pflichtlektüre. Auch die Nachrichten aus L’Aquila am Ende dieser Protokolle stammen von dort. Aber wer Grafs Beiträge kommentiert, muss mit Antworten wie „Einfach mal die Fresse halten“ oder „Geschreibsel“ rechnen.
Beim Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar am 2. September 2004 wurden 50.000 Bände zerstört. Von den 62.000 beschädigten hatten 34.000 Wasser- und Hitzeschäden; davon sind bisher 20.000 restauriert. Von den 28.000 Bänden mit Brandschäden, den sogenannten Aschebüchern, sind 8000 mit erhaltenem Textspiegel restaurierbar, bei den restlichen werden nur handschriftliche Fragmente gesucht. Abschluss im Jahr 2015.
19 Uhr. Ein unansehnliches, zerdrücktes Exemplar von Martin Walsers Roman "Halbzeit". „Wir werfen nichts weg.“ Beim Hinausfegen von Steinchen wird auf dem Vorsatzblatt eine lange Widmung des Autors sichtbar. „Wir lesen nicht.“ Aber wir organisieren. Die neuen Wege in der Halle bewähren sich.
20 Uhr. Wieder Nassgut-Alarm, 50 Kartons. Von allen Stationen strömen die weißen Gestalten an die Reinigungstische.
21 Uhr. Heute werden wir damit nicht mehr fertig. 15 Kartons bleiben liegen. Der Shuttlebus wartet nicht.
Nachricht von drinnen: Kater Felix droht Nierenversagen durch Dehydrierung, berichtet Express.
Nachricht von draußen: Im Erdbebengebiet von L’Aquila jetzt 272 Tote. Im Staatsarchiv lägen die Urkunden unter Bergen von Schutt, meldet Il Tempo.
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