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Ian McEwanSex ist nie einfach

Kommentar von Margret Fetzer

In seinem Roman "Am Strand" erzählt Schriftsteller Ian McEwan von der Zeit vor der sexuellen Revolution - und einer folgenreichen Hochzeitsnacht.

Protagonisten mit Acht-Stunden-Ehe: Autor Ian McEwan Bild: ap

I n vielen Büchern von Ian McEwan spielt Sex eine Rolle, oft eine heikle. In seinem Roman "Abbitte" haben seine Protagonisten Sex zwischen den Regalen der Hausbibliothek. In der Kurzgeschichte "Erste Liebe, letzte Riten" werden sie von Gebärmutterschleim- und Spermafantasien getrieben. Sein gerade erschienener neuer, schmaler und unbedingt lesenswerter Roman "Am Strand" handelt von einem Paar, dem es nicht gelingen will, den Sex in das gemeinsame Leben zu integrieren.

Die Geschichte spielt in den lange vergangenen Zeiten vor der sexuellen Revolution. Anfang der 60er-Jahre heiraten Florence Ponting und Edward Mayhew, ungefähr ein Jahr nachdem sie sich das erste Mal in Oxford begegnet sind. Selbstverständlich musste bis dahin die Tür von Florences Zimmer angelehnt bleiben, während Edward dort ihren Violin-Exerzitien lauschte. Kein Sex vor der Ehe! Die Hochzeitsnacht endet dann aber in einer sexuellen Katastrophe (die detailliert zu verraten dem Leser gegenüber unfair wäre). Wichtig ist: Schließlich stürmt die Braut wortlos aus der Honeymoon Suite des hübschen kleinen Hotels an der Küste - zum Strand!

Dort der große Showdown dieser verunglückten Hochzeitsnacht: Um die eigene Scham zu verbergen, lassen sich die Frischvermählten zu wechselseitigen Verletzungen hinreißen, die nicht mehr zurückgenommen werden können. Es folgt, nach acht Stunden Ehe, die Trennung, bald darauf die Scheidung. Die nächsten Jahrzehnte erzählt McEwan im Zeitraffer: Keiner wird den anderen je vergessen, sosehr Edward die sexuellen Turbulenzen von den späteren swinging Sechzigern an auch genießen wird. Das Leben der beiden Kurzvermählten verläuft nicht schlecht, aber gemeinsam hätte es etwas Besonderes werden können. Das ganze Buch erstreckt sich über 200 Seiten und fünf längere Kapitel, ein Aufbau, der - fünfaktig, wie er ist - auf die Unausweichlichkeit dieser Sextragödie anzuspielen scheint, zugleich durch zahlreiche Flashbacks aufgebrochen wird.

Diese Erinnerungen an die verschiedenen Stadien der Beziehung zwischen Florence und Edward verleihen dem Geschehen Tiefe. Ian McEwan beherrscht die Kunst, seine Figuren plastisch werden zu lassen. Florence ist kein dümmliches Töchterchen der Upper Class, und auch Edward ist mit seiner ländlichen Bodenständigkeit durchaus sympathisch. Sosehr die beiden auch Kinder ihrer Zeit sind, einer Zeit, in der "Gespräche über sexuelle Probleme schlicht unmöglich waren" - der Roman löst die Behauptung, die er auf der ersten Seite aufstellt, mehr als ein: nämlich dass solche Dinge wie Sex niemals einfach seien.

Warum klappt es zwischen Florence und Edward nicht? McEwans Antwort ist genauso nachvollziehbar wie unbefriedigend - unbefriedigend wie die Hochzeitsnacht selbst: Es geht schief, weil alles auch ebenso gut hätte anders laufen können. Wenn Edward Florences Schamhaar zum Beispiel doch noch etwas länger bewegt hätte. Oder wenn Florence nicht ganz so eifrig gewesen wäre, dem Hinweis ihres Sexualhandbuchs Folge zu leisten, nämlich dem Mann beim Penetrieren behilflich zu sein. Es ist nicht schön zu lesen, dass zu Beginn einer sexuellen Beziehung jede Handlung und jede Unterlassung entscheidend sein kann, es ist sogar ziemlich beunruhigend - aber es überzeugt. So unausweichlich die Tragödie dieser fünf Kapitel auch sein mag, so sehr beruht sie wie viele andere auch auf der hamartia, auf dem Versehen, auf dem kleinen, an und für sich unbedeutenden Missgeschick, das fatale Folgen nach sich zieht.

Zugegeben, es hilft der Beziehung sicher nicht, dass Edward sich kaum für die Musik des Streichquartetts zu erwärmen vermag, das Florences ganzen Lebensinhalt darstellt. Und bestimmt gab es günstigere Momente für die Erkundung der eigenen Sexualität als die frühen 60er-Jahre. Doch die, wenn man will, wahre Größe dieses Romans besteht in der Entschiedenheit, mit der er sich weigert, eine befriedigende Antwort zu geben.

Den einzigen Vorwurf, den man McEwan machen möchte, ist der, dass er am Ende doch nicht ganz und gar konsequent ist in seinem Verweigern von Erklärungen: Es finden sich einige Andeutungen, dass Florence in ihrer Kindheit missbraucht wurde, an diesen Stellen untergräbt "Am Strand" sein Thema, dass Sex immer schwierig sei. Sie sind unnötig. Leider kann Sex eben auch dann zum Problem werden, wenn keiner der Partner je das Opfer sexuellen Missbrauchs geworden ist.

Dennoch ist "Am Strand" ein großartiger Roman, nicht zuletzt aufgrund der Einfühlung, mit der sich McEwan seinen beiden Hauptfiguren nähert. Auf dem kurzen Weg zum Hochzeitsbett wiederholt sich in Florences Kopf immer und immer wieder eine Melodie, die sich wie eine Frage nicht auflösen lässt. Edward steht nach seinem sexuellen Versehen minutenlang allein im Raum und hält seine Hose in der Hand. Er bringt es nicht über sich, dieses Kleidungsstück anzuziehen und sich damit wieder der Welt zu stellen.

Ian McEwans vorangegangenem Roman, "Samstag", war ein Gedicht des Dichters Matthew Arnold nachgestellt. Ihm zufolge manifestiert sich am Strand das, was der große Tragödiendichter Sophokles vor langer Zeit in den Wellen der Ägäis gehört hatte: "the ebb and flow / Of human misery". Zwei Leben können sich in wenigen Augenblicken entscheiden. Dieses Auf und Ab der menschlichen Misere stellt Ian McEwan in seinem neuen Roman an ganz individuell gezeichneten Einzelschicksalen dar.

Ian McEwan: "Am Strand". Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes Verlag, Zürich 2007, 207 Seiten, 18,90 Euro

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